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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Toten.
    Als de Berka auch am Tag darauf, es war der fünfte Tag nach seiner Erkrankung, noch lebte, dämmerte es mir, dass er die verfluchte Pest womöglich besiegen könnte. Sein Fieber war verschwunden, die Bubonen waren abgeheilt oder verblasst, und sein Appetit war zurückgekehrt. Muhme Lenchen flößte ihm kräftigende Hühnersuppe ein, die ein Übriges tat. Das einzig Besorgniserregende war seine Schwäche. Er war kraftloser als ein neugeborenes Kind, konnte nicht einmal die Arme heben.
    Am sechsten Tag seiner Erkrankung schaffte er auch das wieder. »Ich werde gesund«, flüsterte er mir zu. »Das habe ich einzig und allein Euch zu verdanken.«
    »Unsinn«, widersprach ich froh, »Ihr wart es selbst, der die Seuche besiegt hat. Euer
Spiritus vitalis
hat dem Pesthauch widerstanden.«
    »Glaubt Ihr?« De Berka blickte spöttisch. Für einen Moment war er wieder ganz der Alte. »Sagen wir einfach, ich habe dem Tod ein Schnippchen geschlagen.«
    »Wie Ihr meint, Herr Professor, doch tut mir einen Gefallen: Sprecht nicht so viel.«
    Er nickte und gehorchte.
    Am siebten Tag, nachdem er von mir gesäubert und gefüttert worden war, fragte er unvermittelt: »Was meintet Ihr eigentlich, als Ihr sagtet, Ihr hättet schon schlimmere Situationen als die Pest durchgestanden?«
    »Sagte ich das?«
    »Ja, am ersten Tag meiner Krankheit. Ihr sagtet, Ihr wäret ohne Furcht, aber Ihr wolltet nicht darüber sprechen, warum. Wollt Ihr es jetzt?«
    Ich zögerte. De Berka war mir als Kranker ans Herz gewachsen, ich fühlte mich ihm sehr nahe. Doch durfte ich ihm von meiner lebensgefährlichen Odyssee mit Odilie erzählen? Durfte ich ihm verraten, wer Odilie in Wirklichkeit war? Andererseits wusste ich, dass ich mich auf seine Verschwiegenheit verlassen konnte. Er würde ein verständnisvoller Zuhörer sein. Und überdies würde ein gutes, offenes Gespräch vielleicht dazu beitragen, die Pest endgültig aus seinem Körper zu vertreiben.
    Also erzählte ich ihm meine Geschichte, und er war der Erste, der sie in voller Länge erfuhr.
    Als ich geendet hatte, schwieg er. Ich dachte schon, das Gespräch hätte ihn zu sehr angestrengt und er wäre eingeschlafen, aber dann sagte er: »Ihr seid noch jung, Nufer, doch Ihr habt schon alles an Höhen und Tiefen erlebt, was ein Leben bereithält. Jetzt verstehe ich, warum Ihr furchtlos seid. Aber ich verstehe nicht, warum Ihr das alles für mich, ausgerechnet für mich, getan habt.«
    »Ihr wart krank, und ich war zur Stelle. Ich wollte helfen, wollte Euer Arzt sein. Ohne groß darüber nachzudenken, ohne triftige Gründe dafür oder dagegen, sondern einfach aus dem Herzen heraus.«
    De Berkas Augen leuchteten auf. »Ah, ich verstehe! Mir scheint, Ihr habt der Scholastik den Kampf angesagt?«
    »Ihre Wesenszüge langweilen mich, Herr Professor. Das ewige Fechten mit Argumenten, die Wortklaubereien, die hurtigen Antworten auf jeden Einwand, einerlei, ob sie besonders klug oder wahr sind, das alles kommt mir schon länger unwichtig und schal vor.«
    »Ihr meint, es seien Dialoge vordergründiger Zwänge?«
    »So sehe ich es, Herr Professor. Die alten Argumentationsketten rasseln und rosten. Sie hören sich ungefähr so an: Alle Menschen sind sterblich – Humanisten sind Menschen – also sind alle Humanisten sterblich und so weiter. Diese Logik langweilt mich. Sie ist zwar richtig, aber mir fehlt der menschliche Funke darin.«
    De Berka lächelte. »Und trotzdem war es ein schönes Beispiel. Fast hätte ich es auf mich bezogen. Aber ich habe in den letzten Tagen meine Unsterblichkeit bewiesen.«
    »Dafür sei Gott gedankt.«
    »Oder war das Beispiel doch auf mich gemünzt?«
    Ich lächelte ebenfalls. »Vielleicht.«
    »Dann seid Ihr – Herr im Himmel, wieso komme ich erst jetzt darauf! – ein Humanist wie ich?«
    »So ist es, Herr Professor.«
    »Justus.«
    »Äh, bitte?«
    De Berka streckte mit Mühe die Rechte aus. »Ich heiße Justus.«
    »Und ich bin Lukas.« Ich schüttelte seine kraftlose Hand und kam mir vor, als sei ich geadelt worden.
    »Wie lange zählst du dich schon zu unserem Kreis?«
    Ich berichtete von Luther und den anderen und davon, dass wir uns einen Namen gegeben hatten.
    »Humanistae Hieranae«,
murmelte de Berka. »Das klingt gut.« Er wurde schläfrig. Die Unterhaltung hatte ihn mehr mitgenommen, als er zugeben wollte. »Das klingt gut, sehr gut …«
    Wenige Atemzüge später war er eingeschlafen. Ich hatte das bestimmte Gefühl, beim Erwachen würde er vollends

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