Der Medicus von Heidelberg
Stühle klemmen, doch es ging nicht. Ich trug noch immer den Pestmantel, der mich einengte wie die Rinde eines Baumstamms. Erst als ich mich mühsam aus dem Mantel geschält hatte, konnte ich mich zur Ruhe begeben. Fast augenblicklich schlief ich ein.
Wider Erwarten lebte de Berka am nächsten Morgen noch. Er blickte mich aus blutunterlaufenen Augen an und hauchte nur ein Wort: »Durst.«
Ich rappelte mich auf und gab ihm zu trinken. Er trank so lange, bis mir der Arm vom Halten des Bechers lahm wurde. »Habt Ihr auch Hunger?«, fragte ich voller Hoffnung.
Statt zu antworten, schloss er die Augen. Sein Kopf sank kraftlos auf die Seite. Ich befürchtete schon das Schlimmste, doch dann merkte ich, dass er nur eingeschlafen war.
»Guten Morgen, Herr. Verzeiht, aber das Mädchen …« Hinz stand in der Tür und hob hilflos die Hände.
»Was ist mit dem Mädchen?«
»Sie weint so schrecklich.«
»Ich sehe sofort nach ihr.« Ich ließ de Berka schlafen, ohne seinen Körper untersucht zu haben, und eilte in die Eingangshalle, wo ich meine Patientin schluchzend antraf. »Gütiger Himmel, warum weinst du so?«, fragte ich sie.
Sie schien mich nicht zu hören.
»Nun gut, dann lass mich sehen, was dein Hautausschlag macht.« Ich überprüfte die Beschaffenheit ihrer Haut. Die guldengroßen rosafarbenen Flecken waren alle noch vorhanden. »Jucken die Flecken?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete sie unter Tränen.
»Hast du Schmerzen?«
»Nein.«
»Was fehlt dir denn?«
Abermals schien ich gegen eine Wand zu sprechen. Ich kam mir ziemlich töricht vor. Um meine Ratlosigkeit zu überspielen, sagte ich zu Hinz: »Geh zum Haus des Ratsherrn. Versuche, mit der Familie zu sprechen, und richte den Angehörigen mein Beileid aus.«
»Ja, Herr.«
Hinz verschwand. Da ich sonst nichts tun konnte, warf ich einen Blick in die Speisekammer. Was ich dort vorfand, stimmte mich trotz des Elends um mich herum froh. Muhme Lenchen schien eine begabte Köchin zu sein, denn ich fand unter den hinzugekommenen Speisen jeweils einen Topf mit Gemüse- und Fleischpastete, dazu mehrere Stücke Aal, Schafskäse, eingelegte Gurken und Rote Bete, Fruchtmus und Salzfleisch. Ich aß von der Gemüsepastete und dem Aal und gönnte mir zum Nachtisch eine gute Portion von dem Fruchtmus.
Bevor ich zu dem Mädchen zurückging, nahm ich noch Brot und Käse für sie mit, denn ich dachte, sie weine vielleicht vor Hunger.
Doch als ich wieder vor ihr stand, war ihr Tränenstrom versiegt, und sie blickte mich aus großen blauen Augen an. Sie war tatsächlich hübsch. »Ich habe dir zu essen mitgebracht«, sagte ich, um einen munteren Ton bemüht. »Wenn du gegessen hast, wird alles besser aussehen.«
Kaum hatte ich das gesagt, fing sie erneut an zu weinen.
Ich musste mich beherrschen, um nicht die Geduld zu verlieren, denn ich vermochte nicht einzusehen, warum sie mir nicht sagte, was ihr fehlte. In meiner Not herrschte ich sie schließlich an: »Wie heißt du eigentlich?«
Sie hielt inne. Der scharfe Ton schien sie zur Besinnung gebracht zu haben.
»Wie heißt du?«, fragte ich noch einmal freundlicher.
»Liselott.«
»Ein hübscher Name. Fast so hübsch wie du.« Es war eine plumpe Schmeichelei, aber sie tat ihre Wirkung.
Liselott lächelte zaghaft und strich sich anmutig eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Aber alle sagen Lilott zu mir.«
»Gut, Lilott. Willst du mir nun sagen, warum du geweint hast?«
Wieder fiel ein Schatten über ihr Gesicht. Aber dann brach es aus ihr hervor: »Er … er hat mich einfach auf die Straße geworfen!«
»Wer hat dich auf die Straße geworfen?«
»Vater.« Lilott schluckte schwer. »Vater war’s … wie einen Sack toter Katzen hat er mich behandelt.«
»Und warum?«
»Er dachte, ich hätte die Pest.« Lilott begann wieder zu schluchzen. »Er war der liebevollste, freundlichste Vater der Welt, aber als er dachte, ich hätte die Pest …«
»Und deine Mutter? Wie hat die sich verhalten?«
Es dauerte geraume Weile, bis Lilott wieder sprechen konnte. »Genauso. Vater und Mutter, sie waren plötzlich wie Fremde. Als ob sie mich nie gekannt hätten. Oh … oh …« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Das muss furchtbar für dich gewesen sein.« Angesichts solcher Grausamkeit fehlten mir die Worte. Die verfluchte Pest! Sie kehrte die schlechtesten Seiten im Menschen hervor und machte aus ihnen Ungeheuer. »Iss ein wenig von dem, was ich dir gebracht habe.«
»Danke, Herr.«
»Hier bist du in
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