Der Medicus von Heidelberg
genesen sein.
Am zehnten Tag nach de Berkas Erkrankung war dieser noch immer ans Bett gefesselt, obwohl er täglich Fortschritte machte. Es schien, als kehre die Kraft, die wieder in seinen Körper zurückfloss, nach ihren eigenen Gesetzen zurück. Als Erstes erneuerte sie seinen klaren Verstand und die wohlgesetzte Rede, dann strömte sie in den Oberkörper und in die Arme hinein, so dass er in der Lage war, sich halbwegs allein aufzusetzen, um Speisen zu sich zu nehmen und sich waschen zu lassen. »In einer Woche spätestens werde ich wieder hüpfen können wie ein junges Reh«, sagte er mit heiterer Miene, während er mit Appetit eine von Muhme Lenchen zubereitete Fleischsuppe löffelte. »Vorausgesetzt, die Beine machen endlich wieder mit.«
»Das werden sie, ich verspreche es dir«, sagte ich. »Willst du nachher meine Aufzeichnungen lesen?«
»Mit Vergnügen.«
Seitdem unser Nothospital mit Allan von Selfisch seinen ersten Pesttoten zu beklagen hatte, war es mir zur Gewohnheit geworden, genau Buch über die Patienten zu führen. Sofern ich es in Erfahrung bringen konnte, trug ich ihre Namen, ihr Alter, ihren Beruf und ihre bisherigen Krankheiten ein. Erfuhr ich diese Dinge nicht, behalf ich mir, indem ich Statur und Äußeres des Kranken beschrieb und sein Alter schätzte.
Wichtiger jedoch war bei jedem Einzelnen die genaue Beschreibung der Pestsymptome. Ich hielt Größe, Anzahl, Farbe und Sitz der Bubonen akribisch fest, um Unterschiede und Zusammenhänge besser zu erkennen und Schlüsse für eine erfolgreichere Behandlung ziehen zu können. Ich beschrieb die begleitenden Schmerzen und deren Beschaffenheit, den Zustand der Zunge und der Schleimhäute, die Entzündung der Bindehäute sowie den Verlauf des Fiebers über den Tag, wobei ich die Hitzegrade nach Art der Alchemisten einteilte: Aschenwärme, Mistwärme, Brutwärme, dazu die Mittagshitze und das Flammenfeuer. Ich notierte, wie die Kranken auf Speisen reagierten, welche Kost bekömmlicher oder weniger bekömmlich schien, welche stärkte oder weniger stärkte. Es war eine Fleißaufgabe, der ich mich immer dann unterzog, wenn auch der Letzte im Hause zu Bett gegangen war, und nicht selten fielen mir während des Schreibens die Augen zu.
Bevor ich mich endgültig zur Ruhe begab, machte ich regelmäßig einen Rundgang und schaute nach unseren Patienten, die, ausgerichtet wie die Mumien, in der Eingangshalle lagen. Mit den wenigsten sprach ich dabei ein Wort, doch mit Lilott war es anders. Nachdem sie mir anvertraut hatte, wie übel ihr mitgespielt worden war, taute sie nach und nach auf. Sie wurde zutraulicher und erzählte mir manches aus ihrem bisher so kurzen Leben. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern, weil ihre Mutter nach der Geburt nicht mehr in der Lage war, neues Leben zu gebären, und dementsprechend der verwöhnte Mittelpunkt der Familie gewesen. Ihr Vater, ein geachteter Bortenwirker, hatte davon geträumt, sie einmal Äbtissin in einem Erfurter Kloster werden zu lassen, die Mutter hatte sich gewünscht, sie möge einmal einen Freiherrn oder Fürsten heiraten.
Lilott hatte gelächelt und zu mir gesagt: »Wie Ihr seht, ist beides nicht eingetreten, Herr.«
»Wart’s nur ab«, hatte ich geantwortet, »das Schicksal geht manchmal seltsame Wege.«
»Ich will weder Äbtissin noch Gräfin werden.«
»Sondern?«
»Ich will mit Euch die Kranken pflegen.« Sie hatte ihre Hand auf meinen Arm gelegt und mich aus ihren blauen Augen angeschaut.
»Nein«, hatte ich erwidert, »das erlaube ich nicht.« Ich hatte hinzufügen wollen: weil du erst wieder gesund werden musst, war aber durch ein Geräusch vor dem Haus abgelenkt worden. Wie sich herausstellte, hatte es sich nur um die laute Rauferei zweier Kater gehandelt, doch ich führte das Gespräch nicht weiter, da es schon spät war.
»Ich habe die Aufzeichnungen über unsere Patienten im Behandlungsraum liegen«, sagte ich zu de Berka. »Neunzehn sind bislang gestorben.«
»Und wie viele haben überlebt?«, fragte er.
»Keiner, wenn man von Lilott absieht. Aber sie hat auch nicht die Pest, sondern nur eine mildere Form.«
»Du erwähntest es. Mach dir nichts daraus, mein Freund. Beharrlichkeit führt zum Ziel, das war in der Wissenschaft schon immer so. Es wird auch diesmal so sein. Irgendwann wird die Pest besiegt werden, und dein Beitrag mag dabei eine große Hilfe sein.«
»Danke, Justus. Ich bin gleich zurück. Will nur noch vorher meinen Rundgang machen.«
»Ist recht.« De Berka
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