Der Medicus von Heidelberg
angerempelt. Es war ein Mann, der Kleidung nach ein Kanzleischreiber, der es sehr eilig hatte. »Passt doch auf, ihr Turteltauben!«, fauchte er. »Zur Seite, los!«
Er blickte Odilie wütend an, und für den Bruchteil eines Herzschlags glaubte ich, in seinen Augen einen Funken des Erkennens zu sehen. Doch dann hastete der Kerl weiter, die Straße hinauf zum Schloss, wo er gewiss irgendeine eilige Nachricht zu überbringen hatte.
»Er hat mich erkannt«, flüsterte Odilie voller Angst.
»Warum sollte er dich erkannt haben?«, beruhigte ich sie. »Er hatte es doch viel zu eilig.« Doch dann fiel mir die Begegnung mit dem hochnäsigen Schreiberling ein, der meine Prinzessin nicht auf dem Schloss hatte melden wollen, nachdem ich sie glücklich nach Heidelberg gebracht hatte, und ich war mir keineswegs mehr so sicher.
Ernüchtert gingen wir weiter.
Als schließlich vor uns eine Frau im Gewand einer Bettlerin auftauchte, wussten wir, dass es Milda war. Scheu verabschiedeten wir uns voneinander – schnell und ohne Kuss.
Der Zweifel in uns war gesät.
Kapitel 14
Heidelberg,
11 . September 1505 bis 24 . Dezember 1506
E s war der Donnerstag nach Mariä Geburt. Schnapp lag friedlich zusammengerollt in einer Ecke des Männerkrankensaals, denn vor kurzem hatte er eine angenehme Begegnung gehabt: Er hatte Rosanna, die Kundige Frau, kennengelernt. Rosanna hatte ihn mit freundlichen Worten begrüßt, ihm ihre Hand entgegengehalten, damit er sie eingehend beschnuppern konnte, und ihn danach ausgiebig gestreichelt und gekrault.
»Er ist überhaupt nicht ungestüm, Ihr seid ein Glückspilz«, sagte sie zu mir. »Einen so großen, treuen Freund hat nicht jeder.«
»Ich weiß«, antwortete ich und erzählte ihr, wie ich Schnapp als winzigen Welpen nach dem großen Baseler Erdbeben aufgelesen hatte.
»Ihr habt recht daran getan, ihn zu retten. Irgendwann wird er es Euch danken.« In Rosannas Stimme lagen Herzlichkeit und Wärme. Dann schlüpfte sie wieder in die Rolle der resoluten Kundigen Frau. »Es kann nicht schaden, wenn Euch die Beschwerden unserer Kranken geläufig sind und Ihr erfahrt, was dagegen zu tun ist. Kommt mit.«
Sie führte mich durch die Reihen der Betten zu einem betagten Mann, der mit geschlossenen Augen dalag. Seine altersfleckigen Hände zitterten stark. Rosanna sagte: »Das ist Meister Schinnagel, ein Küfer. Er schläft fast immer. Nur seine Hände finden niemals Ruhe. Man könnte denken, er litte an der Schüttellähmung, aber dem ist nicht so. Er macht normale Schritte und spricht auch nicht sehr leise. Ich glaube eher, dass es sich bei ihm um das Alterszittern handelt. Warum er hier ist, seht Ihr, wenn Ihr sein Bein betrachtet.«
Sie schlug die Decke zurück, und ich erblickte einen Verband um den linken Knöchel des Alten.
Rosanna nahm die Leinenbinden ab und erklärte: »Die Wunde, die Ihr hier seht, wollte nicht zuheilen. Meister Schinnagel hatte ein offenes Bein.«
»Ich nehme an, der
Spiritus vitalis
des alten Mannes war erschöpft«, sagte ich.
»Nennt es, wie Ihr wollt. Wenn Ihr genau hinseht, erkennt Ihr, dass die Wunde beginnt, von den Rändern her zuzuheilen. Der Grund dafür sind tägliches Spülen mit frischem, warmem Wasser, dazu die Verordnung eines heilenden Aufgusses aus Johanniskraut und Schafgarbe sowie eines stärkenden Aufgusses aus Blättern und Früchten der Rosskastanie, aus wilder Malve, zerstoßenen Arnikawurzeln und Steinklee.«
»Ich werde es mir merken.«
Rosanna ging weiter und führte mich zu einem Mann, der den Unterarm in der Bruchlade hatte. Die Funktion der Knochenschiene war mir bekannt, so dass sich Rosanna mit ihren Erklärungen auf die Art des Bruches und die Beschreibung des Heilprozesses beschränken konnte.
Der nächste Patient war ein junger Flussschiffer mit einem vereiterten Zahn. Rosanna erläuterte in ihrer sachlichen Art: »Wie Ihr seht, haben wir nur eine kühlende Kompresse auf die Wange gelegt. Die eigentliche Behandlung nimmt der Zahnbrecher vor. Er wird noch im Laufe des Tages kommen. Danach werden wir sehen.«
Sie wollte weitergehen, doch ein Ruf von der Tür hielt sie auf: »Rosanna, ich glaube, es ist so weit!«
»Ich komme!«, rief sie zurück und sagte zu mir: »Das wird die junge Magd aus der Haspelgasse sein. Sie wurde gestern Abend zu uns gebracht.«
»Eine Geburt?«, fragte ich überflüssigerweise.
»Ihr habt es erraten. Kommt mit. Eure Ausbildung zur Wehmutter geht weiter.«
Wir gingen ins Gebärhaus, und mein treuer
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