Der Medicus von Heidelberg
doch nur so wäre«, seufzte ich.
Doch der Monat verging, der November kam, der Dezember und mit ihm das Weihnachtsfest. Ich erhielt Post von meiner Familie aus Siegershausen – seit langer Zeit einmal wieder –, in der zu lesen war, dass alles seinen gewohnten Gang ging. Nur Vater hatte sich beim Kastrieren eines Schweines tief in die Hand geschnitten, doch glücklicherweise war der Brand ausgeblieben und die Wunde gut verheilt. Meine Geschwister gediehen prächtig, besonders mein kleiner Bruder Elias, und meiner Stiefmutter Elisabeth Alespachin ging es ebenfalls gut. Der alte Prälat Bindschedler allerdings hatte das Zeitliche gesegnet. Er war siebenundsiebzig Jahre alt geworden, bevor der Herrgott ihn zu sich nahm …
Auch mein Freund Justus de Berka hatte geschrieben. Er berichtete, Meister Karl und Muhme Lenchen seien wohlauf. Letztere koche so gut, dass er mittlerweile Mühe habe, in seine Hosen zu steigen. Hinz und Lilott hätten sich das Eheversprechen gegeben, wohingegen Eustach sich selten blicken ließe. Doch er arbeite nach wie vor als Kärrner. Die Drucklegung meines Erstlingswerkes
Observationes de peste laborantibus
sei bereits erfolgt, mit dem fertigen Buch sei im nächsten Jahr zu rechnen. Der Betrieb an der Hierana normalisiere sich langsam. Mit gleicher Post würde er mir alle meine fehlenden Papiere zusenden, damit ich mich hinkünftig ordnungsgemäß legitimieren könne. Er wünsche mir alles Gute und das Glück, das ich mir erhoffe …
Luther hatte ebenfalls zur Feder gegriffen. Er teilte mit, dass er eine ebenso schwere wie schöne Zeit hinter sich habe. Schwer sei sie gewesen, weil der Vater und die Mutter tief enttäuscht von seinem eigenmächtigen Entschluss, ein Mönch werden zu wollen, gewesen seien und ihn mit mancherlei Vorwürfen überhäuft hätten. Schön sei sie gewesen, weil er endlich Gott so nahe sein könne, wie es nur irgend ginge. Er sei fest entschlossen, schon im nächsten Jahr das Mönchsgelübde abzulegen. Ich möge Verständnis dafür haben, dass er in seiner Abgeschiedenheit nicht wisse, was aus den Brüdern der
Humanistae Hieranae
geworden sei. Doch wolle er für mich beten …
Ich blickte von dem mit säuberlicher Schrift bedeckten Papier auf und dachte an meine Freunde. An Ulrich von Hutten, den Heißsporn, an Barward Tafelmaker, den Beschwörer der Null und des Nichts, an Tilman von Prüm, den Jünger des Ovid, an Eobanus Koch, den Poeticus, und an manchen anderen. Ich dachte auch an Johann Heinrich Wentz, meinen alten Freund und Gönner, und an die vielen Toten des Bebens und der Pest, die meinen bisherigen Lebensweg säumten. Und während ich das alles dachte, liefen mir Tränen die Wangen herab, und Schnapp, der meinen Schmerz genau spürte, drängte sich an mich und suchte meine Nähe.
Nur Fischel, mein alter Freund aus Baseler Tagen, war mir geblieben. Er war es auch, der in der Adventszeit zu mir kam und mich einlud, mit ihm, Rachel und Simon das Weihnachtsfest zu feiern.
»Du als Jude feierst Weihnachten?«, fragte ich verwundert.
Fischel grinste, während er Schnapp streichelte. »Weihnachten nicht direkt,
amicus meus.
Wir Juden feiern
Chanukka,
das ist mindestens genauso gut, wenn nicht besser, denn das Fest dauert acht Tage. Es beginnt immer am fünfundzwanzigsten Tag des Monats
Kislew,
also ziemlich zur selben Zeit wie euer Heiliger Abend. Wir feiern die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem, wir singen, beten, essen und trinken und brennen Kerzen im
Chanukka-
Leuchter ab. Kommst du?«
»Ich komme gern.«
Am Abend des vierundzwanzigsten Dezember machten Schnapp und ich uns auf den Weg zum Judentor, während überall in Heidelberg die Glocken erklangen und Messen gelesen wurden. Auch in der Kapelle des Hospitals war eine Feier anberaumt worden, doch ich hatte gebeten, mich zu entschuldigen. Wenn ich an diesem Tag nicht mit meiner Prinzessin zusammen sein durfte, wollte ich mit niemandem zusammen sein – niemandem außer Fischel, meinem alten Freund. Ihm ging es wie mir. Er hatte zwar eine kleine Familie, ansonsten aber war er genauso allein in der Stadt wie ich.
Ich betätigte den Klopfer der schmalen Tür und wartete. Wieder öffnete mir Rachel. Doch anders als beim ersten Mal, wirkte ihr Gesicht angespannt, während sie mich in den schlauchartigen Raum führte. Fischel saß am Tisch und hielt Simon im Arm. Er sah sehr besorgt aus. Der Gruß, den ich auf den Lippen hatte, blieb mir im Hals stecken. »Was ist passiert?«,
Weitere Kostenlose Bücher