Der Medicus von Heidelberg
sagen, Ihr habt die Methoden eines Kaponenmachers in der Medizin angewandt?«
»So könnte man es nennen, Hochwürden. Ich bin stolz auf meinen Vater.«
»Mit Recht«, warf Koutenbruer ein.
»Ganz meine Meinung«, bestätigte von Lindau. »Wir Gelehrten sollten nicht so vermessen sein, zu glauben, wir wären die Einzigen, die etwas von der Heilung bei Mensch oder Tier verstehen. Sagt, Nufer, habt Ihr wirklich jeden einzelnen Schritt Eures Vaters nachempfunden?«
»Ja«, antwortete ich. »Es schien mir die sicherste Gewähr für einen Erfolg. Doch leider starben meine beiden Patienten. Niemand ist darüber unglücklicher als ich. Dass es Gottes Wille war, ist leicht gesagt, aber ich mag mich nicht mit einer solchen Erklärung zufriedengeben. Sie ist kein Trost für mich. Ich glaube vielmehr, dass mangelndes Wissen zum Verlust der Patienten geführt hat. Das zu klären, wird vielleicht erst späteren Generationen gelingen.«
Koutenbruer sagte: »Da mögt Ihr recht haben, Nufer. Niemand darf Euch einen Vorwurf machen, denn kein Medicus, den ich kenne, hätte die Sache besser machen können. Dennoch habt Ihr einen Fehler gemacht.«
»Welchen Fehler, Herr Professor?«
Von Lindau antwortete für Koutenbruer: »Ihr habt als Medicus selbst Hand angelegt. Ich will nicht behaupten, das sei grundsätzlich falsch, schon um des Inhalts des hippokratischen Eides wegen, aber zumindest unklug. Auch der Bader und der Prosektor wollen ihr Brot verdienen, sie sind Handwerker und verstehen ihr Fach.« Er machte eine Pause, lächelte leicht und fügte hinzu: »Genau wie der Kaponenmacher. Schon deshalb ist eine Teilung der Aufgaben sinnvoll.«
Ich schluckte, denn von dieser Seite hatte ich die Angelegenheit noch nie gesehen, aber der Gedanke hatte etwas für sich. »Ich verstehe Eure Argumentation«, sagte ich. »Erlaubt mir dennoch eine Gegenrede: Was tun, wenn Not am Mann ist und keine Zeit, einen Bader zu holen?«
»Dann sollt Ihr wie ein Mensch handeln und selbstverständlich helfen. Auch wenn die Kirche damit nicht immer einverstanden sein kann.«
»Der gestrige Tag mag dafür ein Beispiel gewesen sein«, fügte Dracontius hinzu.
Ich war verblüfft. »Ihr wisst von meiner, äh, Unterredung mit …?«
»Wir müssen keine Namen nennen, mein lieber Nufer. Doch Jesus selbst hat auch geheilt – und nicht heilen lassen.« Dracontius blickte in die Runde und fragte: »Besteht in diesem Punkt Einigkeit, liebe Brüder?«
Nachdem allseits genickt worden war und auch der Magister von Spengler, der bisher geschwiegen hatte, einverstanden schien, redete von Lindau weiter: »Ich denke, Nufer hat uns in überzeugender Weise Rede und Antwort gestanden, und wir können zum eigentlichen Punkt der Tagesordnung übergehen. Dracontius, lieber Bruder, Euch als Ältestem soll es vorbehalten sein, die nächsten Worte zu sprechen.«
Dracontius, der ein Haupt wie ein römischer Imperator hatte, sagte: »Nun, mein lieber Nufer, Ihr habt Euch sicher die ganze Zeit gefragt, was hier in diesem Raum stattfindet. Es ist nicht, wie Ihr vielleicht befürchtet habt, eine Gerichtsverhandlung, sondern eher ein Gespräch. Ein Gespräch mit Euch, das auf Initiative unseres Bruders Koutenbruer geführt wird. Vor Euch sitzen Herren, die ganz unterschiedliche Ämter bekleiden, doch darüber hinaus verbunden sind durch eine gemeinsame Denkweise: Wir sind der festen Überzeugung, dass im Mittelpunkt unseres Handelns der Mensch stehen soll. Wir vertrauen auf das Gute in ihm, auf die Vernunft und die klare Sicht, auf die Offenheit und die Nächstenliebe. Wir halten nicht fest an dem, was gemacht wird, nur weil es immer so gemacht wurde, nicht an dem, was gelehrt wird, nur weil es immer so gelehrt wurde. Wir wollen die Lehre aus den schmalen Gleisen der Scholastik herausheben. Wir verschließen uns nicht dem Neuen, denn wer sich dem Neuen verschließt, gibt sich mit dem Alten zufrieden. Wir wollen neugierig sein um des Menschen willen, wir wollen lernen und die Wissenschaft voranbringen.«
Dracontius machte eine Pause, und in diese Pause hinein traute ich mich zu sagen: »Genau das will ich auch, Hochwürden.«
»Und deshalb sitzt Ihr hier. Getreu unserer Denkweise habt Ihr versucht, die Wissenschaft voranzubringen, indem Ihr das Werk
Observationes de peste laborantibus
in Erfurt verfasstet oder als Arzt die Schnittentbindung an der lebenden Mutter wagtet. Euer Versuch schlug fehl, aber er ist aller Ehren wert. Lasst mich fortfahren: Zu alledem, was wir
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