Der Medicus von Heidelberg
anstreben, verhilft uns die Sprache in ihrer Vielfalt und Form. Sie bildet nach unserem Verständnis den Unterschied zum Tier und ist der Ursprung gelebter Menschlichkeit. Die Sprache ist es, die uns auszeichnet und zum Philosophieren befähigt. Sie macht uns zum Individuum, sie versetzt uns in die Lage, den Irrweg mancher Ungerechtigkeit oder Engstirnigkeit zu erkennen, wie das Auspressen des kleinen Mannes, das Verhängen strengster Strafen wegen kleinster Vergehen, das Verbieten unliebsamer Meinungen oder die Einrichtung der Inquisition mit ihren abscheulichen Foltermethoden.«
Wieder machte Dracontius eine Pause, denn er war ein alter Mann, und das viele Sprechen bereitete ihm Mühe.
»Gestattet Ihr eine Zwischenfrage, Hochwürden?«
Dracontius trank einen Schluck Wasser und nickte.
»Zählt Ihr Euch zu den Humanisten?«
Ein Schmunzeln lief über die Gesichter der Herren. Dracontius nickte nochmals. »Ihr habt es erfasst. Wir gehören zu dem erlauchten Kreis der
Sodalitas litteraria Rhenana,
der anno 1491 von Conrad Celtis in Mainz gegründet wurde.«
Ich schwieg beeindruckt. Dann sagte ich: »Ich erachte es als eine hohe Ehre, mit Euch sprechen zu können, meine Herren. Auch ich gehörte einem Kreis von Humanisten an. Wir nannten uns die
Humanistae Hieranae,
und wir waren zu siebt: Martin Luther, Barward Tafelmaker, Tilman von Prüm, Hiob Rotenhan, Eobanus Koch, Ulrich von Hutten und ich. Wir hatten dieselben Ziele wie Ihr.« Ich hielt inne und fügte bedauernd an: »Doch leider hat sich der Kreis der
Humanistae Hieranae
aufgelöst. Seine Brüder wurden in alle Winde zerstreut.«
Dracontius sagte: »Ihr werdet es nicht glauben, mein lieber Nufer, aber das ist uns bekannt. Die Gelehrtenrepublik erstreckt sich städte- und sogar länderübergreifend, und es gibt wenig, was sich unter uns nicht herumspricht.«
»Langsam wird mir klar, dass Ihr vieles über mich wisst.«
»Oh, wir wissen noch viel mehr.« Es war das erste Mal, dass Adam Wernher von Themar sich einschaltete. Er lächelte mich an und sagte: »Nachdem ich das Vergnügen hatte, Euch unter, äh, gewissen widrigen Umständen in einer Tenne in der Nähe von Heilbronn näher kennenzulernen, habe ich Euch nicht aus den Augen verloren. Ich habe mir deshalb erlaubt, im Namen der Brüder bei dem ehrenwerten Professor Justus Rating de Berka in Erfurt Erkundigungen über Euch einzuziehen. De Berka ist, wie Ihr wohl wisst, einer der Unseren und hat Euch nur das allerbeste Zeugnis ausgestellt.«
»Das liegt schon einige Zeit zurück«, ergriff Dracontius wieder das Wort. »Aber wir baten de Berka darum, unsere Pläne Euch gegenüber nicht zu verraten. Offenkundig hat er sich an sein Versprechen gehalten.«
»Welche Pläne?«, fragte ich.
»Nun, mein lieber Nufer, wartet noch einen Augenblick, dann will ich sie Euch verraten. Seht, da kommt Vigilius mit einigen Bediensteten herein. Sie bringen Speise und Trank. Lasst Euch ein Glas Wein reichen und erhebt Euer Glas.«
Tatsächlich hatte Johann Vigilius, der Hospes, in der Zwischenzeit das Hereintragen einer mit edelsten Speisen bedeckten Tischplatte beaufsichtigt. Er verteilte gefüllte Gläser an die Herren und nahm sich selbst eines.
»Nun, wo alle ihr Glas haben«, erklärte Dracontius mit feierlicher Stimme, »darf ich Euch, Lukas Nufer, im Kreis der Heidelberger Humanisten, in der
Sodalitas litteraria Rhenana,
willkommen heißen. Prosit!«
»Prosit«, antwortete ich und wusste kaum, wie mir geschah. Alles hätte ich erwartet, nur nicht, dass die Herren einen so jungen Burschen wie mich in ihren erlauchten Kreis aufnehmen würden.
»Wir sind eine zwanglose Bruderschaft, ein Freundesbund, ein Zusammenschluss von Gleichdenkenden. Es gibt kein Aufnahmepapier, keine Ernennung, keine Kosten, es gilt nur das Wort der Brüder und der bekundete Wille, dazuzugehören. Das genügt. Nun, mein lieber Nufer, wollt Ihr einer von uns sein?«
»Von ganzem Herzen ja.« Ich hatte das Gefühl, auf den Olymp gehoben worden zu sein. »Es ist eine große Ehre für mich, und ich will alles tun, mich ihrer als würdig zu erweisen.«
»Davon sind wir überzeugt. Nun lasst uns essen und trinken und den Tag genießen.« Dracontius kam um den Tisch herum und schüttelte mir die Hand. Die anderen Herren taten es ihm gleich. Wir lachten und plauderten, und es war ein seltsames Gefühl für mich, dass die ehrfurchtgebietende Distanz, die normalerweise zwischen den Professoren und mir herrschte, plötzlich verschwunden
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