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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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immer stärker. Merle wurde weißer und weißer im Gesicht, sie lief im wahrsten Sinne des Wortes aus. Als sie gestorben war, haben wir alle zusammengelegt, damit wir das Geld für den Pfarrer und einen Platz auf dem Friedhof bei St. Peter hatten. Der Pfarrer hat eine schöne Predigt gehalten, er hat von der Hure in der Bibel gesprochen, die gesteinigt werden sollte, und von Jesus, der gesagt hat:
Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Ach, es war schön und schrecklich zugleich.«
    »Und was geschah mit ihrem Jungen?«
    »Der hat seine Mutter nur um ein paar Stunden überlebt. Die Amme, die wir in der Nachbarschaft aufgetrieben hatten, kam gerade zur Tür rein, da lief er plötzlich blau an. Er hatte ja sowieso nicht richtig geatmet, und geschrien hatte er überhaupt nicht, wenn Ihr Euch daran erinnert.«
    Das stimmte in der Tat, aber es war mir erst hinterher aufgefallen, und ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, weil der Knabe ganz offenkundig lebte. Hatte ich einen verhängnisvollen Fehler begangen? Ich wusste es nicht. Hätte Rosanna gewusst, was bei einem Kind zu tun war, dessen Lungen nicht stark genug waren, um nach der Geburt zu schreien? Ich nahm an, dass der Kleine an einem Zusammenfall der Lunge gestorben war, aber wie und warum es dazu kommen konnte, war mir ein Rätsel. Ich kam mir schäbig und schuldig vor und trank, ohne es zu merken, meinen Becher auf einen Zug leer.
    »Soll ich Euch nachschenken, Herr Medicus?«
    »Nein danke. Verzeiht, dass ich den Wein so hinuntergestürzt habe. Ich mache mir große Vorwürfe.«
    »Das solltet Ihr nicht.« Muttchen klang sehr fürsorglich. »Wenn Ihr nicht gewesen wärt, wäre das Kind überhaupt nicht rausgekommen. So hatte es wenigstens die Möglichkeit zu leben. Dass es sterben musste, war Gottes Wille. Und auch, dass Merle tot ist, war Gottes Wille. So müsst Ihr’s sehen. Niemand von uns macht Euch einen Vorwurf.«
    »Danke, Muttchen.«
    Muttchen legte ihre Hand auf meinen Arm. »Wie gesagt, niemand macht Euch einen Vorwurf. Im Gegenteil, die Mädchen mögen Euch, besonders Heddi. Wenn Ihr mal auf andere Gedanken kommen möchtet, wär das sicher kein Problem, ich meine …«
    »Danke, Muttchen. Äh, ich weiß Eure Worte zu schätzen. Aber ich muss nun gehen.«
    »Natürlich.« Muttchen schien nicht beleidigt. Sie begleitete mich zur Haustür. Als ich hinausging, fragte sie: »Sagt, Herr Medicus, darf ich wieder nach Euch schicken, wenn eins der Mädchen krank ist? Es soll Euer Schaden nicht sein.«
    Ich überlegte kurz. »Ja«, sagte ich dann.
     
    Der ereignisreiche Tag, den Koutenbruer mir angekündigt hatte, war ein schöner, klarer Wintertag. Die Sonne schien von einem blassblauen Himmel herab, während ich um die zehnte Stunde meine Schritte zum Prytaneum am Lindenplatz lenkte. Das Prytaneum war der Ort auf dem Universitätsgelände, an dem wichtige Versammlungen der Ruperto Carola abgehalten wurden. Doch zu welchem Zweck ich dorthin kommen sollte, hatte mir der Universitätsbote am Morgen nicht sagen können.
    In der Tür des Gebäudes stand zu meiner Überraschung mein Professor. »Guten Morgen, Nufer«, sagte Koutenbruer mit seiner üblichen ernsten Miene. »Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Euch zu begrüßen. Die anderen Herren sind auch schon erschienen. Hier entlang, wenn ich bitten darf.«
    Er dirigierte mich zu einem schlichten Raum, in dem als einzige Kostbarkeit das reich verzierte Universitätswappen an der Wand prangte. Darunter befand sich ein langer Tisch, an dem sechs Herren saßen. Zwei Stühle waren frei. Der eine zwischen den Herren, der andere vor dem Tisch.
    »Liebe Brüder«, sagte Koutenbruer zu den Herren, »wie von Euch gewünscht, ist der Magister der Künste und Studiosus der Medizin Lukas Nufer vor Euch erschienen. Die Sitzung möge beginnen.« Er wies mir den leeren Stuhl vor dem Tisch an und nahm selbst Platz.
    Ich setzte mich mit gemischten Gefühlen. Die Herren musterten mich nicht unfreundlich, eher neugierig, wie mir schien. Ganz anders als der Bischofsvikar Hubert von Elfrich, der mich am Tage zuvor mit feindseligen Blicken bedacht hatte. Und dennoch: Was kam da auf mich zu? Die Verhandlung eines Universitätsgerichtes, in dem ich der Angeklagte war?
    Ich schaute in die Runde und erkannte neben Koutenbruer drei weitere Gesichter. Sie gehörten Janus Tannstetter, einem Theologieprofessor, der das Rektorat im laufenden Semester innehatte, Johann von Lindau, dem Inhaber der ersten Lektur an

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