Der Medicus von Heidelberg
die Klippe umschifft zu haben.
»Du brauchst nicht zu stehen, setz dich.«
Ich setzte mich zu ihr an den Spieltisch und sah sie an. Ihr Gesicht hatte sich kaum verändert, nur ihre Augen spiegelten mehr Selbstsicherheit wider als früher. »Du siehst wunderschön aus.«
Thérèse errötete leicht und ergriff meine rechte Hand. »Sag mir, wie ist es zu der Verkrüppelung gekommen?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte.« Ich versuchte, ihr die Hand zu entziehen.
»Ist es dir unangenehm, wenn ich deine Hand halte?«
»Nein, nein …«
Zum Glück erschien in diesem Augenblick Frieda. »Drüben is das Essen fertig, Herrin.«
»Danke, wir kommen.«
Wir gingen hinüber in einen holzgetäfelten Raum, an dessen Wänden zwei große und mehrere kleine Bilder hingen. Das erste große Bild zeigte eine Flusslandschaft des Neckars mit arbeitenden Weingärtnern, das zweite war eine Abbildung der vier Apostel Johannes, Petrus, Markus und Paulus als Symbolfiguren für die vier Temperamente. Dazu kamen einige Porträts von würdig dreinblickenden Herren. »Wer die Burschen auf den Bildern sind, weiß ich nicht. Ich habe das Haus der Familie des verstorbenen Ratsherrn Donatus Brütigam abgekauft. Komm, lass es dir schmecken«, sagte Thérèse.
Wir nahmen an einer reichgedeckten Tafel Platz. »Erwartest du außer mir noch andere Gäste?«, fragte ich, während ich das erlesene Geschirr bestaunte.
»Nein.« Wieder ergriff Thérèse meine Hand. »Ich möchte dich heute ganz für mich haben. Wir wollen über alte Zeiten plaudern und, vielleicht, auch über die Zukunft.«
Ein Diener erschien, Thérèse zog ihre Hand zurück. »Du kannst uns von der Suppe geben, Gunther«, sagte sie.
Gunther schöpfte Suppe in zwei hohe Teller, stellte sie vor uns hin und rückte die silbernen Löffel zurecht. »Ich wünsche einen guten Appetit«, sagte er näselnd.
»Danke, Gunther, wir brauchen dich nicht mehr.«
Der Diener verschwand, und wir begannen zu essen. Die Suppe war köstlich, sie enthielt Fleischstückchen von ganz eigenem, delikatem Geschmack.
»Schmeckt es dir?«, fragte Thérèse.
»Sehr gut«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Mit der Fastenzeit nimmst du es aber nicht sehr genau, wie mir scheint.«
Thérèse grinste spitzbübisch. »Du meinst wegen des Fleisches in der Suppe? Es stammt von Schildkröten. Weil sie schwimmen und tauchen können, gelten sie bei der strengen Geistlichkeit als Fisch. Du versündigst dich also nicht, wenn du meine Suppe isst.«
»Aha«, sagte ich. »Wie lange wohnst du eigentlich schon in Heidelberg? Ich meine, es ist doch seltsam, dass wir einander noch nicht begegnet sind.«
»Das sind wir doch.«
»Wie bitte?«
»Komm, iss weiter. Oder schmeckt dir die Suppe nicht mehr, seitdem du weißt, was du verzehrst?«
»Doch, doch.« Ich beeilte mich, weiterzuessen. »Und warum meinst du, dass wir uns schon irgendwo gesehen haben?«
Thérèse ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann sagte sie, indem sie mich direkt anblickte: »Wenn man’s genau nimmt, habe nur ich dich gesehen, denn du hast mich nicht erkannt. Ich war die Frau, die im adligen Zimmer des Hospitals mit deiner Hilfe und der Stöckchen-Methode niederkam.«
»Wie bitte?« Mir fiel fast der Löffel aus der Hand.
»Du hast richtig gehört.« Wieder ergriff Thérèse meine Hand. »Es war eine seltsame Situation für mich. Du warst mir so nah und doch so fern. Natürlich durfte ich mich nicht zu erkennen geben. Höchste Diskretion war notwendig, denn das Kind, das ich gebären sollte, nun, es war ein Missverständnis. Niemand durfte etwas davon erfahren, wenn ich nicht meinen guten Ruf als reiche Neubürgerin Heidelbergs verlieren wollte. Ich habe die Universität mit mehreren größeren Summen unterstützt und mich Professor Koutenbruer anvertraut. Den Rest kennst du.«
»Nicht ganz«, entgegnete ich, nachdem ich die Sprache wiedergefunden hatte. »Was ist aus dem Kind geworden?«
Thérèse zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich habe es weggeben müssen. Es ging nicht anders.«
»Wie konntest du so etwas fertigbringen!« Empört entzog ich Thérèse meine Hand.
»Bitte, Lukas, sei nicht wütend. Ich wusste, du würdest es verurteilen, wenn ich es dir erzähle, aber es ging wirklich nicht anders. Stell dir vor: eine reiche, alleinstehende junge Frau mit einem unehelichen Kind. Nicht auszudenken! All die Anerkennung in den höchsten Kreisen, die ich mir erworben hatte, wäre schlagartig dahin gewesen. Außerdem geht es dem
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