Der Medicus von Heidelberg
Cousine gibt es nicht. Aber Elisabeth, meine älteste Schwester, hielt vor vier Jahren Hochzeit mit Philipp von Baden. Ich war dabei, als sie heirateten, und habe Johanna, eine von Philipps Schwestern, kennengelernt. Sie ist Benediktinerin im Kloster Eibingen bei Rüdesheim. Sie könnte ich zum Schein besuchen.«
»Wunderbar! Ein Besuch im Kloster ist unverfänglich. Der Weiberfreund wird dir die Geschichte gewiss glauben und keinen Verdacht schöpfen.«
»Gut, ich will mit ihm reden. Aber das Gespräch wird mir nicht leichtfallen. Ich mag nicht lügen.«
»Das musst du aber, meine Prinzessin. Außerdem ist es nur eine Notlüge. Es ist die einzige Möglichkeit für uns, einander für längere Zeit zu sehen.«
»Du hast natürlich recht.« Odilie schloss die Augen und seufzte. »Ach, es wäre zu schön.«
»Dann lass es uns versuchen.«
»Ja, versuchen wir es.« Odilie schlang die Arme um mich und drückte mich ganz fest. »Am liebsten würde ich dich nie wieder loslassen, aber ich muss zurück an meinen Platz an der Ehrentafel. Christoph ist unberechenbar und die Eifersucht in Person.«
»Er hat es gerade nötig«, sagte ich bitter. »Aber natürlich hast du recht. Wir müssen uns trennen.«
»Ja, wir müssen uns jetzt trennen.«
Wir blieben stehen.
»Auf Wiedersehen, mein Liebster.«
»Auf Wiedersehen, meine Prinzessin.«
»Ich muss zurück.«
»Ich weiß. Gib mir Bescheid, meine kleine Prinzessin, wenn du die Reise antreten kannst.«
»Ja, aber wir müssen sehr vorsichtig sein. Christoph hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Die Sache mit dem Schreiberling Actuarius hat er noch nicht vergessen.«
»Wir werden uns in Acht nehmen. Am besten, wir gehen nicht gleichzeitig zurück an unsere Plätze, denn das könnte auffallen.«
»Geh du zuerst.«
»Gut, ich gehe. Jetzt, da ich weiß, dass wir uns wiedersehen, fällt es mir leichter.« Ich wollte Odilie ein letztes Mal in die Arme nehmen, doch ich versagte es mir. Der Abschied war auch so schon schwer genug.
Ich setzte die Maske auf und ging.
Im Saal hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht. Bis auf die Diener schien jeder betrunken zu sein. Die Musiker spielten laut und falsch. Tänzer waren auf die Tische gesprungen und schritten in übertrieben würdevoller Weise durch Braten und Würste. Der Hirsch mit dem vergoldeten Geweih war umgefallen. Eine Muse griff Sokrates zwischen die Beine. Zwei Wikinger und ein Gladiator prügelten sich. Eine Amazone hatte ihren Oberkörper entblößt, um zu beweisen, dass sie noch zwei Brüste hatte. Jason hatte sein Goldenes Vlies mit dem Gordischen Knoten vertauscht. Alexander der Große trank den Schierlingsbecher. Apollon schnarchte, die Sanduhr des Chronos im Arm. Cäsar hatte seinen Lorbeerkranz verloren und verhüllte seine Glatze mit dem Zweig des Pan. Pan, der Waldgott, wiederum hatte sich meines Dreizacks bemächtigt. Es war ein einziges Tohuwabohu. Ich entwand Pan meinen Dreizack und suchte meinen Platz auf. Thérèse war nicht da. Wo mochte sie sein? Ich konnte sie nirgendwo entdecken. Dasselbe galt für den Weiberfreund. Vielleicht hatte Merlin, der Zauberer, Thérèse tatsächlich verhext. Mir war es einerlei.
Ich beobachtete, wie Odilie nach einer Weile ebenfalls an ihren Platz zurückkehrte. Doch im Gegensatz zu mir blieb sie nicht lange allein. Apollon war erwacht und begehrte, mit ihr zu tanzen.
Ich schaute mir das Treiben noch eine Weile an. Thérèse ließ noch immer auf sich warten. Vielleicht war sie mit dem Zauberer gegangen. Wenn es so war, konnte ich es ihr nicht verübeln. Sie war eine junge, schöne Frau, die sich nach Zärtlichkeit sehnte. Nach Zärtlichkeit, die sie von mir nicht erwarten konnte.
Ich stand auf. Mein letzter Blick, bevor ich dem Ausgang zustrebte, galt meiner Prinzessin. Sie war mitten im Gewoge der Leiber und tanzte mit Apollon. Ich wünschte mich an seine Stelle, aber es war Zeit, zu gehen. Ich drängte mich weiter durch die Menge, wurde angerempelt und gestoßen und verlor einmal fast das Gleichgewicht. Als ich aufblickte, sah ich in die Fratze des altlatinischen Fauns. Er war sturzbetrunken, seine Gesichtszüge waren entgleist. Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel. Am ekligsten aber war sein nekrotisches Auge. Das wuchernde Geschwür mit dem toten Gewebe hatte das Sehorgan nahezu verschlossen. Er blinzelte mit dem gesunden Auge und rückte die Augenklappe zurück an ihren Platz. Seine Begleiterin half ihm dabei. Es war Artemis, die Göttin der Jagd. Es war
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