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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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wieder nach der Logik des Aristoteles und des Petrus Hispanus.
    Jede Haft nimmt irgendwann ein Ende.
    Ich bin in Haft.
    Also: Meine Haft nimmt irgendwann ein Ende.
    Der Gedanke war ebenso tröstlich wie ungewiss. Ich nahm mir vor, den Kerkerknecht beim nächsten Mal nicht fortgehen zu lassen, ohne einige Auskünfte bekommen zu haben. Sofern es ein nächstes Mal überhaupt geben würde.
    Doch die Gelegenheit kam. Irgendwann ertönten die schlurfenden Schritte wieder. Licht ergoss sich in mein Verlies und blendete mich. Ich konnte kaum sehen, wie der leere Napf gegen einen neuen, vollen ausgetauscht wurde. Doch das war mir gleich. Ich schrie den Mann an: »Ich will auf der Stelle zum Kurfürsten Ludwig gebracht werden, hörst du!«
    Er hörte nicht. Oder er tat zumindest so.
    »Ich verlange zu wissen, wessen ich beschuldigt werde! Ich will hier raus!«
    Der Kerl grunzte und schickte sich an zu gehen.
    »Halt!« Ich machte einen letzten Versuch. »Wenn du mich freilässt, gebe ich dir hundert Goldgulden auf die Hand. Niemand wird es jemals erfahren. Ich werde für immer die Stadt verlassen, und du kannst dir einen Leichnam besorgen, den du dann für mich ausgibst. Stelle dir vor, hundert Goldgulden auf die Hand!«
    Die Tür schloss sich. Dunkelheit umfing mich. Es war hoffnungslos. Ich weinte mich in den Schlaf.
    Wie lange ich vor mich hin dämmerte, weiß ich nicht. Mir tat alles weh, jeder Knochen, jedes Gelenk, jeder Teil meines Körpers. Durch die Fesseln waren mir die Glieder wie abgestorben. Wenn ich schon halb tot bin, sagte ich mir, werde ich bald ganz tot sein, und das wäre eine Erlösung. Der Gedanke, so schaurig er war, hatte etwas Beruhigendes für mich.
    Dann kam zu den Schmerzen, die ich spürte, ein neuer Schmerz. Er stach mir in die Augen wie ein Dorn. Es war das Licht, das auf einmal wieder mein Verlies ausfüllte. Meine Augen tränten. Ich erkannte den Kerkerknecht. Er stellte mich auf die Beine wie eine Puppe.
    Ein zweiter Knecht erschien, ebenso schweigsam wie der erste. Zusammen nahmen sie mir die Fußfesseln ab. »Wohin bringt ihr mich?«, hörte ich eine Stimme krächzen. Es war meine eigene.
    Sie schwiegen weiter beharrlich, ergriffen mich links und rechts unter den Achseln und schleiften mich aus dem Verlies hinaus.
    Ich versuchte zu gehen, aber es war unmöglich. Das tagelang aufgestaute Blut weigerte sich, seine Zirkulation wieder aufzunehmen. »Welches Datum haben wir heute?«, fragte ich den zweiten Kerkerknecht, denn ich hoffte, er wäre eher bereit zu sprechen.
    Doch er schwieg.
    »Herrgott im Himmel, du wirst mir doch noch sagen dürfen, welcher Tag heute ist!« Ich schrie es dem Kerl mit letzter Kraft ins Ohr, mit einer Wut, die ans Lächerliche grenzte, denn mein Schicksal hing gewiss nicht von einem Wochentag ab.
    »Montag.«
    Der Kerl hatte tatsächlich geantwortet. Und während ich immer wieder versuchte, aus eigener Kraft zu gehen, dachte ich, dass dieser Montag der siebzehnte April 1508 sein musste, der Montag der heiligen Woche vor Ostern. Ich weiß, es klingt töricht, aber das Wissen um das Datum gab mir Halt und neue Kraft.
    Die Knechte führten mich durch zahllose Gänge und Räume, und meine Augen hatten Gelegenheit, sich an das immer heller werdende Licht zu gewöhnen. Sie führten mich über einen freien Platz im Schloss, wo Mägde und Diener geschäftig hin und her eilten. Sie beachteten mich kaum, doch die wenigen unter ihnen, die mich ansahen, rissen den Mund auf ob meines erbärmlichen Anblicks.
    »Wenn wir bei Junker Christoph sind, fällst du auf die Knie und beugst den Kopf.« Offenbar hatte der erste Kerkerknecht beschlossen, sein Schweigen zu brechen.
    Ich gab ihm keine Antwort. Es war ein billiger Triumph für mich.
    »Hast du gehört?« Er wiederholte seinen Befehl.
    »Ich habe dich gehört«, sagte ich.
    Unterdessen hatte sich die Umgebung verändert. Wir passierten hohe, kostbar eingerichtete Räume, die nur aus Bildern, Gold und Marmor zu bestehen schienen. Plötzlich bekam ich einen Stoß in den Rücken. »Knie nieder!«, zischte der erste Kerkerknecht.
    Er hätte sich die Worte sparen können, denn der Stoß hatte mich schon von den Beinen gerissen. Als ich aufblickte, betrat ein feister, in einen orientalischen Umhang gekleideter Mann den Saal. Er trug eine schwarze Augenklappe. Es war Christoph, der verhasste Weiberfreund.
    Der Weiberfreund watschelte zu einem thronartigen Stuhl, ließ sich ächzend hineinfallen und streckte gebieterisch eine Hand aus.

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