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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Gesicht spritzte. Es musste Wasser sein. Wassertropfen, die von oben auf mich herabfielen. Ich spürte sie, aber ich konnte sie nicht sehen, denn um mich herum herrschte tiefe Finsternis. Jeder Tropfen war ein kleiner Schlag, und mit jedem Schlag kam mein Gedächtnis ein Stück zurück.
    Wieder war ich überfallen worden, und wieder waren es der Knoblauchfresser und sein Kumpan mit der fehlenden Hand gewesen. Dieses verfluchte Pack! Wut stieg in mir hoch, grenzenlose Wut. Und Angst. Angst, die mir die Kehle zuschnürte und mein Herz rasen ließ. Zitternd lag ich da. Nur mühsam gelang es mir, ruhiger zu werden. Als mein Puls wieder halbwegs normal schlug, kam die Verzweiflung, und mit der Verzweiflung kamen die Tränen. Tränen der Ohnmacht. Was wollten die Spitzbuben von mir? Was hatten sie vor? Diesmal hatten sie mich nicht an einen Brückenpfeiler im Neckar gebunden. Ich lag auf feuchtem, steinernem Boden, war an Händen und Füßen gefesselt, konnte mich nicht rühren, und die Kälte kroch mir von unten in die Glieder.
    Wo befand ich mich überhaupt?
    Vergeblich versuchte ich, etwas zu erkennen, doch ich konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Es gelang mir, mich aufzurichten und den Wassertropfen auszuweichen. An meinem Rücken spürte ich eine Wand. Eine Felsmauer vermutlich. Befand ich mich in einem Verlies?
    Ich überlegte weiter und kam zu dem Schluss, dass man mich in einen Kerker des Schlosses gesperrt hatte. Dafür sprach, dass der Wagen die Richtung zur Kurfürstlichen Residenz eingeschlagen hatte. Was wiederum ein Hinweis darauf war, dass der Weiberfreund auch bei diesem Überfall seine Finger im Spiel gehabt hatte. Schon einmal wollte er mich töten lassen. Was hatte er diesmal mit mir vor? Wollte er mich im Kerker schmachten lassen, bis mir die Haut von den Knochen fiel? War das seine Rache, weil Odilie mir ihre Liebe geschenkt hatte?
    Irgendwer musste mich verraten haben. Der Schreiberling Actuarius? Ich war ziemlich sicher, dass er mich nicht erkannt hatte, sondern nur Odilie. Aber wer war es dann? Einerlei, die Grübeleien brachten mich nicht weiter. Ich musste raus aus diesem Loch!
    Ich rief, so laut ich konnte, doch das Einzige, was mir antwortete, war ein hohles Echo.
    Großer Gott, gab es in diesen Katakomben denn keine Menschenseele? Wollte man mich tatsächlich verrecken lassen wie einen eingemauerten Hund?
    Wieder rief ich, ich schrie, ich fluchte, ich bettelte, und ich hasste mein eigenes Echo.
    Irgendwann musste ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Wie lange ich geschlafen hatte, wusste ich nicht. Doch ich wachte auf durch ein Geräusch, dass ich bisher noch nicht gehört hatte: sich nähernde Schritte. Dann sah ich einen Lichtspalt am Boden. Ein Schlüsselbund klirrte. Die Tür schwang auf. Eine Gestalt stand im Türrahmen. Das musste ein Kerkerknecht sein. Er hielt eine Fackel in der Hand. Trotz des trüben Scheins traf das Licht meine Augen wie ein Blitz. Ich blinzelte. »Wo bin ich? Wer bist du? Was wirft man mir vor?« Die Fragen sprudelten nur so aus mir heraus.
    Doch ich bekam keine Antwort.
    Der Kerkerknecht bückte sich und stellte einen Napf mit schleimiger, übelriechender Suppe vor mich hin. Dann wandte er sich zum Gehen.
    »Halt!«, rief ich. »Wie soll ich essen, wenn mir die Hände gebunden sind?«
    Seine Antwort bestand nur in einem Grunzen. Er schlug die Tür von außen zu und entfernte sich mit schlurfenden Schritten. Mit ihm verschwand auch das Licht.
    Ich war wieder allein. Allein mit einer schleimigen Suppe. Ich konnte sie nur riechen, aber mir drehte sich fast der Magen um. Ich würde sie niemals anrühren, das schwor ich mir. Einerlei, wie groß mein Hunger sein mochte.
    Am nächsten Morgen – ich glaubte jedenfalls, dass es Morgen war – machte ich mich mit Heißhunger über sie her. Ich kroch zu dem Napf, tauchte meine Lippen in die Flüssigkeit und würgte sie hinunter. Ich schalt mich einen Schwächling, weil ich nicht widerstanden hatte, aber eine Nacht voller Hoffen und Bangen lag hinter mir. Eine Nacht, in der meine Zähne vor Kälte aufeinandergeschlagen, in der ich geweint, gebetet, gesungen und meine Seelenqual hinausgeschrien hatte. Es machte keinen Sinn, nichts zu essen. Ich wollte nicht hungers sterben. Noch nicht. Meine Zeit sollte noch nicht gekommen sein!
    Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich all mein Wissen repetierte. Ich sprach in einen leeren Raum, gegen unsichtbare Wände. Ich sagte Gedichte auf, leitete Formeln ab und argumentierte immer

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