Der Medicus von Heidelberg
dich unser …
Nach der Eucharistie und einem letzten Segen des Vikars unternahm Ysengard mit den Seinen einen Osterspaziergang entlang der Stadtmauer, hinaus in die Felder, die sich wie schwarze Tücher über das Grün der Landschaft ausbreiteten, und wieder zurück an den heimischen Herd, in dem schon das gebratene Lamm wartete. Man setzte sich erwartungsvoll zu Tisch. Bemalte Ostereier als Zeichen von Christi Auferstehung wurden bestaunt und an jeden verteilt. Nach vierzig Tagen des Fastens herrschte eine heiter gelöste Stimmung. Man lachte, schwatzte und sprach kräftig der Speise zu, einer Köstlichkeit, bestehend aus zwei knusprigen Lammkeulen, Zwiebeln, Knoblauch, Speck, Salz und den scharfen Samenfrüchten der Pfefferpflanze, die auch als Körner der Molukken bekannt sind. Dazu gab es braune Soße, eingelegten Kohl und zwei Dutzend Klöße – herrlich duftende, runde Gebilde aus Mehl, Spinat und weißem Brot. Ein guter Tropfen rundete den Gaumenschmaus ab.
Der Fröhlichste am Tisch aber war ich, denn dieser Sonntag war der Tag, an dem Odilie zum ersten Mal hatte aufstehen dürfen. Sie war noch ein wenig wacklig auf den Beinen, und der Spaziergang nach der Kirche hatte sie mehr angestrengt, als sie zugeben wollte, aber sie war bei gutem Appetit, und – noch wichtiger – sie war an meiner Seite.
Später, als wir wieder in unserer Kammer waren, sagte sie: »Das war ein Osterfest, wie ich es noch nie erlebt habe. Alles war so anders. In der Kirche musste ich nicht das Gefühl haben, ständig von allen angestarrt zu werden, und beim Festmahl ging es auch viel fröhlicher zu.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Ich streichelte Schnapp, der die größte Zeit des Tages in der Kammer zubringen musste, da er sich nicht mit den Katzen der Meisterin vertrug.
»An meines Vaters Tafel sind die Speisen edler und vielfältiger, aber immer halb kalt, wenn sie aufgetischt werden.«
»Nanu, wie kommt das?«
»Die Küchenräume liegen weit entfernt, und der Vorkoster nimmt sich immer viel Zeit.«
»Ich verstehe. So hat es vielleicht sein Gutes, dass du hier bist. Es gibt auch eine andere Welt als die bei Hofe.«
»Ja, das wird mir langsam klar.«
»Und welche gefällt dir besser?«
Odilie schwieg. Dann sagte sie leise: »Mein Vater und meine Geschwister fehlen mir.«
»Du wirst sie bald wiedersehen. Das verspreche ich dir.«
»Meine Brüder vermisse ich nicht, aber meine Schwestern.« Sie nahm mir Schnapp ab, der an ihrem Finger zu knabbern begann.
»Wie viele Schwestern hast du denn?«
»Fünf. Elisabeth ist die Älteste. Sie ist verheiratet mit Philipp von Baden. Ich bin die Zweitälteste, dann kommt Amalie. Sie ist vierzehn, mit ihr verstehe ich mich am besten. Wir sind oft zusammen, wenn ich nicht gerade von meinen Lehrern unterrichtet werde oder mich mit Handarbeiten herumquälen muss. Wir gehen spazieren im nahegelegenen Karmeliterkloster oder im Hasengärtlein, das ist der alte Burggraben, weißt du, oder wir setzen uns in den kühlen Schatten der Pomeranzenbäume. Die Pomeranzenbäume sind mir die liebsten im ganzen Schloss. Ihre Früchte verströmen einen bitteren, frischen Geruch, und die getrockneten Blätter und Schalen verwendet man für heilende Aufgüsse. Das müsste dich als angehenden Medicus doch interessieren?«
»Ja, sicher«, sagte ich.
»Ach, Amalie. Manchmal bin ich froh, dass ich sie habe, auch wenn sie fast noch ein Kind ist. Hier habe ich ja niemanden.«
»Wenn du es so siehst.«
»Außer dir natürlich.« Odilie lächelte mich an.
In der Woche nach Ostern fühlte Odilie sich von Tag zu Tag besser. Sie nahm regelmäßig ihre Sitzbäder und fügte sich überraschend gut in den Alltag ein. Sogar für leichte Küchenarbeit ließ sie sich von der Meisterin einteilen – eine Situation, vor der ich mich insgeheim gefürchtet hatte. Zu oft hatte ich in der Vergangenheit Hochmut und Ablehnung in ihrem Gesicht gesehen.
Ich selbst machte mich in der Werkstatt nützlich und erledigte meine Arbeiten allem Anschein nach zur Zufriedenheit von Ysengard und Hartmut, denn am Donnerstag der Woche sagte der Altgeselle zu mir: »Stell mal den Besen beiseite. Ich habe mit dem Meister gesprochen, heute kriegst du eine Lektion im Schmieden von Damaszenerstahl. Aber wenn er heute Abend von der Ratssitzung kommt, will er die Werkstatt wieder tadellos aufgeräumt vorfinden. Versprichst du mir das?«
»Ja, gern.«
»Dann wollen wir überlegen, was du schmiedest. Es muss etwas Vernünftiges
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