Der Medicus von Heidelberg
geschah, dass ich als Heidelbergerin zu dir nach Siegershausen kam, um dich dort zu heiraten. Das sei doch eine sehr große Entfernung und sehr ungewöhnlich. Normalerweise würde man jemanden aus der näheren Umgebung ehelichen. Als ich herumdruckste, weil mir keine gescheite Antwort einfiel, half sie mir, ohne es zu wollen, indem sie mich fragte, ob ich womöglich eine entfernte Verwandte von dir sei. Eine Base mehrfachen Grades vielleicht. Ich sagte, das wäre so, aber ich würde den Grad nicht genau kennen. Dann fragte sie, wie du und deine Eltern in Siegershausen wohnten, ob das Haus groß und schön sei, und ich beschrieb in meiner Not das Gehöft von Pipps Vater und die Tenne und die umliegenden Felder, auf denen man im Frühjahr die Steine sammeln müsse, die der Frost des Winters nach oben gedrückt habe. Dann sollte ich sagen, warum du und ich nicht in Siegershausen geblieben seien, die Schwiegertochter gehöre doch ins Haus des Sohnes, ob es sein könne, dass du mit deinem Vater im Streit lägest wegen des Erbes, ob es in der Gegend nicht genug Arbeit für zwei Kaponenmacher gäbe oder ob ein anderer Grund vorliegen würde. Ich wusste am Ende überhaupt nicht mehr, was ich antworten sollte.«
»Und was hast du geantwortet?«, fragte ich.
»Nichts. Ich begann zu weinen. Ich fühlte mich so elend, dass meine Tränen sogar echt waren.«
»Und da ließ sie von dir ab?«
»Ja, sie nahm mich in die Arme und tröstete mich, sagte, es täte ihr leid, sie habe nicht so in mich dringen wollen. Ich aber fühlte mich immer noch elend, denn es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich gelogen hatte.«
»Das muss sehr schwer für dich gewesen sein.« Ich nahm Odilies Hand und drückte sie.
Sie ließ mir ihre Hand und erzählte weiter. »Dann sagte die Meisterin: ›Wir wollen nicht mehr so viel von dir reden, reden wir lieber vom Essen. Weißt du, wie man eine Pilzsuppe macht, wenn man so früh im Jahr noch nirgends welche findet?‹ Ich sagte nein. Weißt du es, Lukas?«
»Ich weiß es auch nicht, aber ich bin gespannt.«
»Ganz einfach, man nimmt getrocknete Pilze vom vergangenen Jahr und legt sie in Wasser ein. Dann quellen sie auf und sind fast so gut wie frische.«
Ich lachte. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«
»Ich auch nicht. Ich habe mir noch nie Gedanken über das Essen gemacht. Es war einfach immer da.«
»Das war bei mir früher auch so. Mittlerweile wissen wir aber beide, dass sich für jeden Pilz, den wir essen, jemand gebückt haben muss.«
»Ja, das stimmt.« Odilie rückte ein wenig näher.
»Er hat ihn gesucht, gefunden, gepflückt, nach Hause getragen, geputzt und zubereitet.«
»Beim Zubereiten war ich heute dabei. Ich meine, die Meisterin hat natürlich die Suppe gekocht, aber abgeschmeckt habe ich sie.«
»Sie war wirklich sehr lecker. Genau nach meinem Geschmack.«
»Oh, wirklich?«
Ich blickte betont ernst. »Bei allem, was mir heilig ist.«
Odilie lachte und gab mir einen Knuff. »Ach, das sagst du nur so.«
»Nein, mein Wort darauf.«
»Wenn du es ehrlich meinst, freue ich mich.« Plötzlich wurde sie verlegen, entzog mir ihre Hand und blickte zur Seite. Und weil sie verlegen wurde, wurde ich es auch. Um unsere Befangenheit zu überbrücken, sagte ich: »Ich habe heute auch etwas unter Anleitung hergestellt. Hartmut hat mir dabei geholfen, sieh mal.«
»Ein Messer?«, fragte sie.
»Ein Skalpell.«
»Es sieht schön aus. Darf ich es in die Hand nehmen?« Als sie es hielt, fragte sie: »Wofür braucht man so etwas?«
Ich erklärte ihr, dass ein Skalpell dazu diene, Operationen durchzuführen.
»So, wie die Bader und Wundärzte es tun?«
»Genau so.«
»Aber du bist kein Bader. Willst du denn einer werden?«
»Ich möchte ein Medicus werden.«
»Ein Medicus? Das dauert doch sicher furchtbar lange?«
»Ja«, sagte ich, »es hat schon lange gedauert, und es wird noch lange dauern.« Dann erzählte ich Odilie mein ganzes bisheriges Leben. Anfangs kamen mir die Worte schwer über die Lippen, aber je länger ich berichtete, desto leichter fiel mir das Sprechen. Ich ließ nichts aus, und ich fügte nichts hinzu, denn ich wollte, dass sie alles über mich wusste.
Als ich geendet hatte, dachte Odilie eine Zeitlang nach und sagte dann: »Du hättest auch mir den Schlafbefehl geben können. Wie damals der kleinen Resi. Dann hätte ich nicht so viele Schmerzen gehabt.«
»Das stimmt«, räumte ich ein. »Ich habe es mir überlegt, aber nicht getan.«
»Und warum
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