Der Medicus von Heidelberg
nicht, weil man vielleicht hinter uns her ist und, ach … das verstehst du ja alles nicht.« So und ähnlich redete ich auf meinen kleinen Freund ein, und die Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Die Verstümmelung, die Schmerzen, die Flucht und die Gewissheit, dass ich am morgigen Tag Odilie für immer verlieren würde, das alles war zu viel für mich gewesen. Ich schämte mich meiner Tränen nicht, denn ich nahm an, Odilie schliefe. Doch sie war wach geworden und sagte leise: »Jetzt sind wir wieder zu dritt.«
»Ja, das sind wir«, antwortete ich erleichtert.
Bald darauf schliefen wir ein, viel beruhigter als zuvor, denn wir wussten, dass Schnapps Ohren feiner waren als unsere und dass er uns bei der kleinsten Gefahr warnen würde.
Sowie die ersten Lichtstrahlen durch das Blätterdach des Waldes fielen, standen wir auf und orientierten uns in Richtung Norden. Es war nicht einfach, den rechten Weg einzuschlagen, denn die Bäume standen dicht an dicht, und die Elsenz, die uns bisher als Wegweiser diente, hatten wir verloren. Wir versuchten, uns nach der Sonne zu richten, doch sie schien an diesem Vormittag nicht. Gegen Mittag, als wir uns noch immer im tiefen Gehölz befanden, sagte ich zu Odilie: »Ich fürchte, wir haben uns verlaufen.«
»Aber so groß kann der Wald doch nicht sein?«
»Vielleicht sind wir im Kreis gegangen.« Ich bemühte mich, zuversichtlich zu klingen, und fuhr fort: »Aber vielleicht hat das auch sein Gutes, und wir haben auf diese Weise unsere Verfolger abgeschüttelt.«
»Glaubst du denn wirklich, die habsüchtigen Frauen lassen uns suchen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Doch selbst wenn sie es nicht täten, dein Vater tut es gewiss. Nach allem, was wir gehört haben, wird er nichts unversucht lassen, um dich zu finden.«
Odilie setzte sich auf einen Stein, denn sie brauchte eine Pause. »Seine Männer dürfen uns nicht finden, weil sie sonst die Belohnung für sich beanspruchen würden.«
»Ja, wir müssen sehr auf der Hut sein. Wer mir Böses will, könnte behaupten, ich hätte dich zunächst entführt, um ebenfalls ein Lösegeld zu erpressen, und es mir anders überlegt, als ich hörte, die Suchtrupps des Kurfürsten seien unterwegs.« Ich ließ mich neben Odilie nieder. Mir tat alles weh, auch die verkrüppelte rechte Hand, und ich begann, den Verband abzuwickeln.
»Lass mich das machen.« Geschickt übernahm Odilie die Arbeit und legte alsbald zwei sauber vernähte Fingerstümpfe frei, deren Farbe weitaus weniger bedrohlich aussah als noch vor einer Woche. »Du bist fast schon wieder gesund!«, rief sie.
Ich bewegte vorsichtig die Hand, was noch ziemlich weh tat, und sagte: »Wenn man von den zwei verlorenen Fingern absieht, ja. Aber ich will nicht undankbar sein. Ich bin dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.«
Odilie begann, einen neuen Verband anzulegen. »Ich habe viel gebetet für dich.«
»Und es hat geholfen. Dass ich noch lebe, habe ich dir und der Meisterin zu verdanken.«
»Sie ist eine neugierige, habsüchtige Frau. Ich bin sehr enttäuscht von ihr.«
»Sagen wir, sie hat zwei Seiten. Die geldgierige Seite kannten wir bisher noch nicht. Es wird die schwindelerregende Höhe der Belohnung sein, die diese Seite hervorgekehrt hat. Nehmen wir an, dass es nur eine einmalige Verfehlung war.«
Odilie machte einen abschließenden Knoten, um den neuen Verband zu fixieren. »Du bist sehr nachsichtig.«
»Vielleicht bin ich nur froh, dass ich noch lebe.«
Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte Odilie: »Wirst du denn noch ein Medicus werden können, ich meine, wegen der fehlenden Finger?«
Ich überlegte. »Wenn ich so werden wollte wie die meisten, hätte ich wohl kaum Probleme, denn üblicherweise legt ein Medicus beim Heilen wenig Hand an. Er fragt, fühlt, riecht, prüft, beobachtet und verordnet dann die richtige Arznei, um den Gleichklang der Säfte im Körper wiederherzustellen.«
»Das könntest du gewiss.«
»Ja, aber es genügt mir nicht. Ich habe mir vorgenommen, neben dem theoretischen Wissen auch praktische Erfahrungen zu sammeln. Entweder bin ich Arzt, dann kann ich tätig helfen, oder ich schwätze nur klug daher. Durch Theorie ist noch nie ein Bruch geschient, eine Hasenscharte operiert oder ein Arm zur Ader gelassen worden. Denk daran, was mein Vater geschafft hat. Er war kein Bader, kein Wundarzt und auch kein Prosektor, aber er hatte Geschick und Gottvertrauen. So rettete er das Leben zweier Menschen – das meiner
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