Der Medicus von Heidelberg
Spott über unsere Verliebtheit löste die Verzauberung auf. »Komm, meine kleine Prinzessin«, sagte ich rauh. »Wir müssen weiter.«
Als das im Süden der Stadt gelegene Kettentor nur noch wenige hundert Schritte entfernt war, sagte Odilie: »Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen so schlecht über mich reden.«
»Die Menschen reden viel, wenn der Tag lang ist«, erwiderte ich. »Sie kennen dich nicht.«
»Nein, sie kennen mich nicht. Aber es könnte sein, dass an manchem, was sie sagen, etwas dran ist.«
»Das war einmal. Du bist eine wunderbare junge Frau. Tapfer und selbstlos. Du hast mir das Leben gerettet. Schade, dass ich das niemandem erzählen kann.«
»Vielleicht kannst du es doch!« In Odilies Augen blitzte es auf. »Wenn du die Belohnung bekommst, bist du ein reicher Mann und kannst mich heiraten. Ich meine, wenn Vater dir einen Adelstitel verleiht. Und wenn du mein Ehemann bist, kannst du überall erzählen, was wir erlebt haben.«
Ich schwieg dazu, und auch Odilie redete nicht weiter. Sie spürte wohl selbst, welche Luftschlösser sie gerade gebaut hatte.
Wir passierten unbehelligt das Stadttor und folgten der Kettengasse nach Norden. Reges Treiben herrschte um uns herum. Handwerksläden, Bürgerhäuser, Gastwirtschaften und andere Gebäude wechselten einander in bunter Reihenfolge ab. An einer Mauer sahen wir ein Flugblatt, auf dem mit großen Lettern nach Odilie gesucht wurde, doch niemand stand davor und las. Die Menschen waren viel zu sehr mit sich und ihrem Tagewerk beschäftigt. Das konnte uns nur recht sein. Wir gingen weiter, bogen rechts in die Oberspeirische Straße ab und erreichten nach wenigen Schritten die Heiliggeistkirche, zwischen deren Strebepfeilern die Bäcker, Metzger und Fischer ihre Verkaufsstände aufgeschlagen hatten. Im Vorbeigehen entdeckten wir den Hausratshändler Jenisch, der sich lebhaft mit einer Bäckersfrau unterhielt und ihr dabei mit einem Mehlsieb unter der Nase herumfuchtelte. Wir machten, dass wir weiterkamen, gelangten zum Rathaus mit seinem breiten Balkon und anschließend zum Kornmarkt, von dem es nicht mehr weit bis zur Kurfürstlichen Kanzlei war, einem prächtigen Gebäude, dessen Fassade von drei hohen gotischen Toren gekennzeichnet ist.
Die Kanzlei war der Amtssitz von Kaspar von Edingen, dem Schultheißen der Stadt. Von Edingen war, wie Odilie mir erklärte, der oberste Verwaltungsbeamte ihres Vaters und gleichzeitig Vorsitzender des Stadtgerichts. Vor allem aber war er ihr persönlich bekannt. Zu ihm wollten wir.
Wir gingen durch das mittlere Tor und erklommen rechter Hand sechs Stufen zur Ersten Amtsstube, in der die Sekretäre und Schreiber ihre Arbeit verrichteten. Offenbar waren wir nicht die Einzigen mit einem Anliegen, denn außer uns stand ein halbes Dutzend Bürger vor der Tür. Ohne sie zu beachten, wollte Odilie hineingehen und von Edingen begrüßen, doch ich hielt sie zurück. »Lass mich das machen«, sagte ich. Ich schob mich an den unwillig murmelnden Menschen vorbei, öffnete die Tür und entbot die Tageszeit. Da die Antwort ausblieb, ging ich auf den erstbesten Schreiberling zu und sagte: »Ich möchte den Stadtschultheißen sprechen.«
»Das möchten viele. Seid Ihr überhaupt dran?« Der Mann blickte nicht einmal auf, sondern kratzte mit seiner Feder weiter Buchstaben aufs Papier.
Ich wurde ärgerlich. »Vielleicht bin ich noch nicht dran, aber ich habe die Ehre, Ihre Durchlaucht Prinzessin Odilie, die Tochter Philipps, des allergnädigsten Kurfürsten von der Pfalz, anzukündigen. Der Kurfürst lässt seit Wochen nach ihr suchen, falls Euch das bekannt ist. Nun steht sie draußen und wartet. Schafft mir Kaspar von Edingen heran.«
Nach diesen Worten geruhte der Schreiberling aufzublicken. Er musterte mich von oben bis unten, dann sagte er nur ein Wort: »Raus.«
Ich blieb stehen. »Hütet Eure Zunge! Manchmal trügt der äußere Schein. Ich bin Lukas von Siegershausen, promovierter Magister der Künste, und von Adam Wernher von Themar persönlich beauftragt worden, die Prinzessin heimzubringen.« Um meinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen, sprach ich weiter auf Latein: »Die Prinzessin hat einen langen Weg hinter sich und ist erschöpft. Sorgt für Speise und Erfrischungen, bis sie zum Schloss gebracht werden kann.«
Ich weiß nicht, ob der Kerl mich verstand, jedenfalls schien er meine Behauptungen nicht mehr für ganz so unwahrscheinlich zu halten, denn er sagte: »Der ehrenwerte Schultheiß Kaspar von Edingen
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