Der Medicus von Saragossa
Ärzte begriffen«, sagte Nuño. »Ich hoffe, in Spanien wird es eines Tages wieder soweit sein, daß ein Arzt ungestraft eine abweichende Meinung äußern und in der Öffentlichkeit gefahrlos disputieren kann, aber heute ist es noch nicht soweit, und auch morgen nicht.«
Jona begriff sofort, daß er ein Narr gewesen war, und er bedankte und entschuldigte sich. Nuño nahm den Vorfall nicht auf die leichte Schulter. »Als du zu mir kamst, warst du dir der Gefahr bewußt, in der du wegen deiner Religion schwebst. Aber auch in unserem Beruf mußt du dich vor gewissen Dingen hüten, denn sie können dich ins Verderben stürzen.«
Plötzlich grinste er Jona an. »Außerdem waren deine Ausführungen nicht ganz genau. In den übersetzten Seiten des Kanon, die du mir gegeben hast, spricht Avicenna von zehn verschiedenen Arten des Pulses – und zählt dann nur neun auf! Darüber hinaus schrieb er, daß die feinen Unterschiede im Puls nur sehr kundigen Ärzten nützen. Du wirst feststellen, daß diese Beschreibung nur auf wenige der Männer zutrifft, mit denen wir heute das Brot gebrochen haben.«
Drei Wochen später hatte Nuño einen schweren Anfall. Er stieg eben die Treppe zu seinem Zimmer hoch, als ihn plötzlich ein heftiger, betäubender Schmerz in der Brust überfiel, der ihm den Atem nahm und ihn so schwächte, daß er sich setzen mußte, um nicht böse zu stürzen. Jona hatte Patienten besucht und sattelte gerade im Stall den grauen Araber ab, als Reyna bestürzt die Tür öffnete. »Es hat ihn schwer getroffen«, sagte sie, und Jona eilte mit ihr ins Haus. Gemeinsam schafften sie Nuño ins Bett, wo er, heftig schwitzend, Symptome hervorkeuchte, als würde er an einem Krankenlager stehen und Jona unterweisen.
»Der Schmerz ist... dumpf, nicht... scharf. Aber... heftig. Sehr heftig...«
Als Jona den Puls maß, war er so unregelmäßig, daß es ihn ängstigte. Er schien stoßweise zu schlagen, ohne erkennbaren Rhythmus. Jona flößte ihm tropfenweise Kampfer in Apfelschnaps gegen den Schmerz ein, der trotzdem noch fast vier Stunden anhielt. Am Abend ließ er nach und verschwand schließlich ganz, und danach lag Nuño völlig entkräftet in seinem Bett.
Aber er war ruhig und konnte sprechen. Er bat Reyna, ein Huhn zu schlachten und ihm eine Brühe zu kochen, und dann sank er in einen tiefen Schlaf. Jona beobachtete ihn eine Weile und wurde sich dabei überdeutlich der Beschränkungen des Arztseins bewußt, denn er hätte alles getan, um Nuño wieder gesund zu machen, hatte aber nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte.
Nach drei Tagen war Nuño wieder in der Lage, mit Jonas Hilfe langsam nach unten zu gehen und tagsüber in seinem Sessel zu sitzen. Zehn Tage lang hatte Jona noch Hoffnung für ihn, doch am Ende der zweiten Woche war klar, daß es sehr ernst um ihn stand. Seine Brust war verstopft, und seine Beine schwollen an. Anfangs versuchte Jona, ihm nachts Kopf und Brust aufzurichten, indem er ihn im Bett auf mehrere Kissen stützte. Doch bald wurden die Schwellungen und die Atembeschwerden schlimmer, und Nuño wollte Tag und Nacht nur noch in seinem Sessel vor dem Feuer sitzen bleiben. Nachts lag Jona wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Boden und horchte auf das gurgelnde Atmen des sitzenden Mannes.
In der dritten Woche waren die Anzeichen einer tödlichen Krankheit unverkennbar. Die Flüssigkeit, die in seinen Lungen gluckerte, schien alles Gewebe seines Körpers durchdrungen zu haben, was ihm den Anschein von Fettleibigkeit gab, mit Beinen wie Baumstämme und einem aufgequollenen, vornüberhängenden Bauch. Er hatte versucht, nicht zu sprechen, da ihm sogar das Atmen schwerfiel, doch nun gab er Jona in atemlosen Stößen seine Anweisungen.
Er wollte auf seinem eigenen Grund und Boden, auf der Hügelkuppe, beerdigt werden. Ein Grabstein sollte nicht aufgestellt werden.
Jona konnte nur nicken.
»Mein Letzter Wille. Schreib ihn nieder.«
Also holte Jona Papier, Tinte und Feder, und Nuño diktierte ihm schwer atmend seine Verfügungen.
Reyna Fadique hinterließ er die Ersparnisse, die er in seiner Laufbahn als Arzt angehäuft hatte.
Ramón Callicó hinterließ er sein Land und die hacienda, seine medizinischen Bücher und Instrumente und die Ledertruhe samt Inhalt von Nuños verstorbenem Bruder Manuel Fierro.
Jona konnte sich dies nicht anhören, ohne zu widersprechen. »Das ist viel zu viel. Ich brauche keine...«
Aber Nuño schloß die Augen. »Keine Verwandten...«, sagte er und
Weitere Kostenlose Bücher