Der Medicus von Saragossa
fiel ein, daß Meir ihm beigebracht hatte, einen kleinen Kiesel in den Mund zu nehmen, wenn es kein Wasser gab, und daran zu saugen, um die Speichelbildung im Mund anzuregen. Er tastete seine Umgebung ab, und als er einen Kiesel in der richtigen Größe gefunden hatte, nahm er ihn und wischte ihn mit den Fingern sauber. Kaum hatte er ihn in den Mund gesteckt, bildete sich Speichel, und er saugte wie ein Kleinkind an der Mutterbrust. Als er merkte, daß er erneut in den tiefen Graben des Schlafes versank, spuckte er den Kiesel wieder aus.
So verging die Zeit. Nagender Hunger, verzehrender Durst und eine schreckliche zunehmende Schwäche plagten ihn, und nur der Schlaf bot gelegentlich Erlösung.
Irgendwann spürte Jona, wenn er noch länger in der Höhle bliebe, würde er verhungern, und so begann er, langsam und steif aus seinem Loch zu kriechen.
Als er um die Ecke des L-förmigen Tunnels bog, traf ihn die strahlende Helligkeit wie ein Schlag, und er blieb eine Weile liegen, bis er in dem gleißenden Licht wieder etwas sehen konnte.
Draußen merkte er am Stand der Sonne, daß es Nachmittag war. Der Tag war still, bis auf das laute Zwitschern der Vögel. Vorsichtig stieg er den schmalen Pfad hoch und erkannte, wie bitter nötig er bei seinem verzweifelten Abstieg in der nächtlichen Dunkelheit die schützende Hand des Herrn gehabt hatte.
Auf dem Heimweg begegnete er niemandem. Als er die Häusergruppe erreichte, sah er voller Freude, daß alles unberührt und wie immer wirkte.
Bis...
Sein Haus war das einzige verwüstete. Die Tür war nicht mehr da, man hatte sie aus den Angeln gerissen. Die Einrichtung war zerstört oder gestohlen. Alles, was irgendeinen Wert hatte – Meirs maurische Gitarre zum Beispiel -, war verschwunden. Die Fensterbänke waren verkohlt, rußschwarze Fächer breiteten sich auf dem Stein über den Öffnungen aus.
Drinnen waren nur Verwüstung und Trostlosigkeit und der Geruch des Feuers.
»Abba!«
»Abba!«
»Abba!«
Aber es kam keine Antwort, und Jona erschrak über den Lärm seines eigenen Schreiens. Er ging nach draußen und rannte zu Benito Martins Haus.
Die Familie Martin begrüßte ihn mit freudigem Staunen. Benito war blaß. »Wir dachten, du bist tot, Jona. Wir glaubten, daß sie dich in den Abgrund geworfen haben. In den Tajo.« »Wo ist mein Vater?«
Martin ging zu dem Jungen, und während sie sich in einer freudlosen Umarmung hin und her wiegten, gestand er Jona alles, ohne ein Wort zu sagen.
Als die Worte schließlich kamen, erzählte Martin eine grausige Geschichte.
Ein Mönch hatte auf der plaza mayor von Toledo eine Menschenmenge um sich versammelt. »Es war ein buckliger Dominikaner, ein großer Mann namens Bonestruca. Er hatte mich vor ein paar Tagen über deinen Vater ausgefragt, als ich ihm in der Kathedrale die Zeichnungen des Reliquiars zeigte.«
Der bucklige Mönch. Jona erinnerte sich an einen großen Mann mit sanften Augen.
»Auf der plaza rottete sich eine Horde zorniger Männer zusammen, als er gegen die Juden predigte, die das Land bereits verlassen haben. Die Juden hätten sich davongemacht, ohne anständig bestraft worden zu sein, erzählte er ihnen. Dann nannte er deinen Vater beim Namen und beschuldigte ihn, als Jude ein verhextes Ziborium angefertigt zu haben, mit dem er schreckliches Unheil über die Christen bringen wollte. Er bezeichnete ihn als Antichrist, der das Angebot verschmäht habe, zum Erlöser zu kommen, der Ihn straflos verhöhnt habe und sich nun mit heiler Haut aus dem Staub machen wolle. Erst trieb er sie bis zur Raserei, doch als sie sich zu deinem Haus aufmachten und deinen Vater erschlugen, blieb er zurück.«
»Wo ist Abbas Leichnam?«
»Wir haben ihn hinter dem Haus begraben. Jeden Morgen und jeden Abend bete ich für seine unsterbliche Seele.«
Martin ließ dem weinenden Jungen Zeit zu trauern. »Warum ist er nicht mitgekommen, als er mich wegschickte?« stammelte Jona. »Warum ist er nicht auch geflohen?«
»Ich glaube, er ist geblieben, um dich zu schützen«, sagte Martin langsam. »Wenn niemand im Haus gewesen wäre, hätten die Männer gesucht, bis sie deinen Vater gefunden hätten. Und dann... hätten sie auch dich gefunden.«
Bald darauf brachten Benitos Frau Theresa und seine Tochter Lucia Brot und Milch, aber Jona in seinem Kummer bemerkte sie gar nicht.
Benito drängte den Jungen zum Essen, und Jona konnte nicht anders, als unter den besorgten Blicken des Mannes und der beiden Frauen alles gierig
Weitere Kostenlose Bücher