Der Meister
Wochenende in der Großmarkthalle als Stapelfahrer und hatte zusätzlich zum Lohn eine Steige Artischocken geschenkt bekommen, die schon fast an der Grenze waren. Eigentlich darüber. »Studenten haben einen guten Magen«, wird sich der Artischockeur gedacht haben. Gemüsist eher, er wird nicht nur Artischocken vertrieben haben.
Der Doktorand und sein Mitbewohner Morold trommelten ein Dutzend Leute zusammen, und es gab also Artischocken. Und irgendwie kam dabei, nicht verwunderlich angesichts der Artischocken, die Rede auf Italien und damit zwangsläufig auf die Kunst, auf die Malerei, auf Michelangelo, auf die Sixtinische Kapelle. Halt! Ich weiß, wie die Rede darauf kam: Carciofi giudea, erwähnte Carlone, die seien ganz anders zubereitet als diese hier – und er erzählte von einer jüdischen Trattoria in der Nähe des Porticus der Octavia … »Rom!« schwärmte sogleich der Göttliche Giselher. Und so führte der Weg zur Sistina .
Der Göttliche Giselher hielt eine Rede, einen Vortrag, eine göttliche Analyse sowohl der Deckengemälde der Sistina als auch des Jüngsten Gerichts. So blumenreich wie kunsthistorisch schilderte er mit großen Armbewegungen diese Werke Michelangelos bis in die letzte Ecke der Kapelle. Wir sahen sie förmlich über den Resten der Artischockenschalen aufblühen.
»Bist du oft dort gewesen?« fragte die Russin.
»Nicht direkt.«
Er war überhaupt nie dort gewesen. Er war nie in Rom gewesen. Er war eigentlich überhaupt nie woanders gewesen. Nun ja: Kant auch nicht, und auch der hat über alles mögliche geredet, ohne es gesehen zu haben.
*
Oder bei dem Badeausflug, einem anderen Badeausflug, nicht dem vor der Oper. An den Klingsee. Die schöne Helene Romberg kannte sich mit Gewässern aus, sie wußte hier eine unberührte Uferstelle. »Ich bade nicht gern nackt«, sagte sie. So behielt sie das goldene Kettchen um den (ebenfalls sehr sehenswerten) Bauch an.
»Hat dir das der Amtobel geschenkt?«
»Aber wirklich nicht.«
»Von wem«, fragte ich Carlone in der Madonna , »hat sie wohl damals das Bauchkettchen bekommen? So etwas kauft sich eine Frau nicht selber.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Carlone, »ich war übrigens damals auch gar nicht dabei, leider. Ich war verhindert.«
»So?«
»Heimspiel Arminia Bielefeld gegen 1. FC Nürnberg. Es ging um Leben und Tod. Das heißt, ob wir in der Bundesliga bleiben.«
Diesmal kam, nachdem man nach dem Anblick der schönen, naturbelassenen Helene Romberg wieder zu Atem gekommen war, die Rede auf wirtschaftliche Dinge. Auch da wußte der Göttliche Giselher Bescheid. Er hielt einen raumgreifenden Vortrag über den Zusammenhang zwischen dem Diskontsatz und dem Geldumlauf, über die Abhängigkeit der Produktenbörsen vom Bruttosozialprodukt (oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr), über die fiktive Geldbeschaffung und die Geldvernichtung. Allerdings war ein Außenstehender mit von der Partie, der Verlobte der Russin Njakleta, und der war Doktorand der Volkswirtschaft und gelernter Bankkaufmann. Ganz leise sagte er später, Njakleta verriet es uns, es sei alles völliger Unsinn gewesen.
Aber sehr wirkungsvoll vorgetragen.
*
»Opus 100« – Ein ungewöhnliches Thema für eine Doktorarbeit. »Sind wir bei den Mathematikern?« raunzte Professor Goblitz, aber Carlone setzte es durch, letzten Endes. Er war undiskutiert einer der besten unter den Studenten, und – wer weiß – vielleicht war es dem Alten im Grunde genommen egal.
Warum hat Dvorˇák mitten zwischen großen Werken der zwar hübschen, aber kleinen Violin-Sonatine (nicht Sonate!) ausgerechnet ihr die Opus-Zahl 100 gegeben? Hatte das mit dem von Dvorˇák verehrten Brahms zu tun, der auch einem allerdings großen, weiträumigen Werk für Violine und Klavier, der Sonate in A-Dur, die Wegmarke 100 gegeben hat? Dem Klaviertrio in Es-Dur hat Schubert selber ausdrücklich die Opus-Zahl 100 gegeben, vielleicht weil es das erste seiner Werke war, das zu seinen Lebzeiten im Ausland veröffentlicht wurde. Daß es das letzte war, ahnte er nicht.
Überhaupt Opus-Zahlen: Gustav Mahler verwendete keine, Wagner auch nicht. Ermanno Wolf Ferrari: Da konnte der Meister , der Perfektionist und Fanatiker der Genauigkeit, wütend werden, wenn man den »Wolf-Ferrari« mit Bindestrich schrieb. »Nie, nie!« tobte der Meister, »hat sich Wolf Ferrari mit Bindestrich geschrieben. Immer ohne! Immer! Ein nicht auszurottender Unfug: Auf allen Schallplattenhüllen, auf allen Ankündigungen,
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