Der Meister
ich in der Madonna .
»Ach wo. Sie ist überhaupt nie fertig geworden.«
Der Meister sprach perfekt Französisch. Er sprach perfekter Französisch als die Franzosen. Einmal war einen Monat lang ein junger Musikwissenschaftler aus Besançon als Gast im Institut, hatte irgendein Stipendium. Der Meister sprach mit ihm Französisch und korrigierte ihn, weil er nach quoique keinen Konjunktiv verwendete.
»Wahrscheinlich können sie das in Bisantz nicht.«
»Wie, was? Byzanz?«
» BISANTZ ! Wissen Sie nicht, daß das der eigentliche deutsche Name von Besançon ist? Die sind dort gar keine richtigen Franzosen, wenn sie nach quoique den Indikativ verwenden.«
In der Musikwissenschaft glänzte der Meister als derjenige, der praktisch fließend Tabulaturen lesen konnte, so alt konnten sie gar nicht sein, dass er sie nicht beherrschte, und Neumen las er sozusagen wie Butter herunter. Er war firm in allen Kirchentonarten und sang einem, wenn man wollte, das hinterletzte Mixolydisch herunter, von unten nach oben und von oben nach unten, wobei er auch erklärte, daß Mixolydisch nicht gleich Mixolydisch ist, weil im Gebrauch der Gregorianik das Mixolydische das Hypophrygische ist, während das Jonische das Phrygische ist und umgekehrt … »Danke, danke, es reicht.«
Lange wußte ich nicht, wie er heißt. Er war eben der Meister . Klein, mager, schwarzhaarig, überhaupt eher ein dunkler Typ, immer eilig, oft aufgeregt, liebenswürdig, wenn er nicht gerade etwas besser wußte. Er wußte es besser.
Thomas (nomen est omen?) Wibesser hieß er.
*
»In unserem Alter ist die Frage berechtigt«, sagte ich in der Madonna , »lebt der Meister noch?«
»Nein«, sagte Carlone.
Er legte kurz das Besteck zur Seite und schaute nachdenklich seine orata an, seine Goldbrasse, die er eben zu zerteilen im Begriff war, und sagte dann: »und das ist eine ganz eigenartige Geschichte.«
*
Wir hatten alle keine Ahnung davon, unter welchen kümmerlichen Verhältnissen der Meister lebte. Er war der einzige Sohn eines schwerkrank aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Berufsoffiziers, der bald starb. Nur unter großen Opfern gelang es der Witwe, den Sohn bis zum Abitur zu bringen, ihn studieren zu lassen. Sie lebte zurückgezogen in der hintersten Provinz; das Geld, das sie dem Sohn schickte, reichte aus für eine Dachkammer, in der der Meister mehr hauste als lebte. Ich kannte die Dachkammer, war ein paarmal dort, fragte gedankenlos: »Findest du nichts Besseres?«
Nein, natürlich fand er nichts Besseres, mußte mit jedem Pfennig rechnen.
Die Möbel waren im Sperrmüllstil gehalten. Auf einer mit maschinengeschnitzten, zum Teil abgebrochenen Girlanden verzierten Kommode stand eine kleine Kochplatte und daneben sein einziger Luxus: ein Plattenspieler. Aber auch der war »antik«. Offenbar ließ sich die Geschwindigkeit nicht mehr richtig regeln. Der Perfektionssinn des Meisters hätte nicht geduldet, daß eine Schallplatte (damals gab es noch keine CD s) nicht mit exakter Geschwindigkeit ablief. (Die Tonhöhe stimmte der Meister mittels der Stimmgabel und seines zwar nicht absoluten, aber hochgradigen relativen Gehörs ab.) Mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems von kleinen Läppchen, die an genau bemessenen Stellen des Triebwerks klebten, regulierte er die Geschwindigkeit.
Kein Luxus war sein Fahrrad mit Hilfsmotor. Das wenige Benzin, das das knatternde Ding brauchte, war damals billig, der Aufwand also geringer als selbst eine Studentenmonatskarte. Freilich hätte es ein Fahrrad ohne Hilfsmotor für die Fahrten in die Universität auch getan, nicht aber für die zweihundert Kilometer seiner Heimfahrt zur Mutter, die, langsam ungeduldig werdend, auf den endlichen Abschluß des Studiums wartete. Immerhin aber päppelte sie ihn bei diesen Gelegenheiten auf – alle Monate etwa einmal.
Wohin der Meister mit seinem Hilfsmotorfahrrad nicht alles fuhr! Einmal bekam das Institut ein paar Karten für eine Generalprobe bei den Bayreuther Festspielen. Der Meister setzte sich in seinem schwarzen Konfirmandenanzug auf das Knatterding und fuhr hin. Wie viele Stunden er wohl brauchte? Bei Regen und Wind fuhr er mutig, unverzagt – bei schlechtem Wetter in einen der heute ausgestorbenen Kleppermäntel gehüllt, die man zeltartig um Lenkstange, Schultern des Fahrers und Gepäckträger drapieren konnte.
Man stelle sich vor! Sogar nach Paris fuhr der Meister auf diesem Gefährt, um in einer Bibliothek die Originalhandschrift irgendeines
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