Der Meister
Präsident einer schrittmachenden Institution nationaler Ebene, die weiteren Akteure Professoren oder sogar zeitweilig Minister. Imponierende Bandbreite des Wissens und der Interessen. Auffallend die Stimmstärke der beiden anführenden Brüder, beruhigend der stille Charme der dazugehörigen Damen. Es war nicht zu übersehen, daß die zeitweilige Ministergattin in ihrer sanften Art ihren die höheren Dinge besser als die Stolperschwellen des niederen Daseins überblickenden Gatten sanft zu leiten wußte. Ich selber habe sie auch noch gekannt: voll Klugheit und Witz – »Witz« in dem Sinn, wie Lessing dieses Wort gebrauchte, und so paßte es bei der älteren zu ihrer gepuderten Rokokoperücke, nur daß die »Perücke« bei ihr echt war, die schneeweißen Haare zum jung gebliebenen Gesicht.
Frau Lothary hieß sie, und der Meister legte ihr sogleichseine unschuldsvolle Verehrung zu Füßen. Eine nicht ganz so unschuldsvolle Verehrung – und das ist die zweite von den genannten Lebensgleis-Wechsel-Komponenten – legte er einer gewissen Frau (damals sagte man noch Fräulein) Emma Raimer zu Füßen. Emma Raimer … Carlone konnte sich, als es soweit war, nicht versagen – der Meister hieß ja Thomas mit Vornamen –, unter quasi enharmonischer Verwechslung des »der« vom Nominativ masculin zum Genitiv feminin, den Kalauer »Tom der Raimer« zu machen.
Die Raimer war ein Fremdkörper innerhalb des Kreises der Wilden Bühne. »Wie sie überhaupt dazugestoßen ist«, sagte Carlone in der Madonna , »weiß ich nicht. Vielleicht hat eine der Töchter des Ministers sie eingeschleppt. Ich weiß es nicht.«
Die Wilde Bühne las: Hamlet , Der zerbrochene Krug , Die Physiker , Der Revisor , Der Vortrittsabmesser (von Albert Drach, dies zur Vorsicht beigefügt, weil es womöglich nicht jedem Leser gegenwärtig ist) und von der Iphigenie bis zum Ödipus »alles, was nicht niet- und nagelfest ist«, so Carlone in der Madonna .
Carlone, der eine schöne Stimme hat und sogar eine Zeitlang eine sängerische Ausbildung genossen hatte, war ein sehr stark begehrter Sprecher in jenem Kreis und bekam oft eine tragende Rolle. Beim Meister gab es gewisse Schwierigkeiten, obwohl auch er schön las, nur verursachte es ihm Krämpfe, wenn etwas gekürzt wurde, und es mußte manchmal etwas gekürzt werden, weil sonst das Abendessen zu lange hätte hinausgeschoben werden müssen. Dieses Abendessen war unabdingbarer Bestandteil der Lesungen und genau auf das Stück abgestimmt, für die Hausfrau nicht immer ganz einfach. (Es wurde umzechig gelesen, jeder im Kreis kam im Zyklus als Gastgeber dran.) Was serviert man, wenn Die Wupper von Else Lasker-Schüler gelesen wird? Schwierig. Wupper-Eintopf?
Die Raimer paßte, wie gesagt, nicht in den Kreis, war eher vorlaut, arg auf sich selbst bezogen. »Ich kann nichts Rotes essen«, befahl sie, »ich bin allergisch dagegen.« Zum Beispiel. Sie verschwand auch nach drei oder vier Lesungen aus dem Kreis, nicht aber aus des Meisters Leben.
Ganz im Gegenteil, kann man sagen.
»Der Meister und die Frauen«, seufzte Carlone in der Madonna , »das war auch so ein Kapitel. Ich würde mich nicht wundern, wenn er noch mit dreißig Jahren ›Jüngling‹ war.« Das hing selbstverständlich auch mit seinem Hang zur Perfektion zusammen. Zwar verliebte er sich oft, gab es meist nicht zu, konnte es aber nicht verbergen (die schöne Helene Romberg war es einmal, die Russin Njakleta danach), aber keine war vollkommen genug. Entweder hatte sie etwas zu dünne Beine oder sie war Wagnerianerin (für den Meister gab es, was Oper betraf, nur Rossini bis Verdi), oder sie war zu groß, oder sie war zu klein oder hatte – ein besonderer Tick des Meisters – zu große Füße.
Bei der Raimer stimmte alles. Stimmte alles? Kaum. Daß der Meister der Raimer buchstäblich verfiel, ist wohl nur damit zu erklären, daß bei ihm inzwischen der Paarungstrieb dasDiversifizierungsvermögen lahmlegte. Dabei muß man zugeben – ich kannte sie auch, eher flüchtig allerdings –, daß die Raimer auch höheren Ansprüchen standhielt, was ihre körperleibliche Erscheinung betraf.
Nein, ganz verlassen hatte den Meister sein perfektionistisches Wesen nicht. Als er später Gelegenheit gehabt hatte, dies profund zu beurteilen, bemängelte er, daß sie, die Raimer, »einen etwas zu spärlichen Busen« aufwies. »Aber sonst«, fügte er hinzu, »besonders in gewisser Hinsicht …« War aber dann Kavalier und schwieg.
Was aber
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