Der Meister
fand Emma Raimer am Meister , dem linkischen, dürren, schwarzstrubbeligen Pedanten und Besserwisser? Diesem leicht wurzelzwergischen, rumpelstilzigen ewigen Doktoranden, dem man, wenn man ihn so sah, keinerlei Magnetismus für Frauen der gehobenen Begehrungsklasse zutraute? Faszinierte sie sein Geist? Sein Verstand? Sein Wissen? In gewisser Weise: ja. In gewisser Weise. Sie war vielfach umschwärmt, sonnte sich auch darin. Aber sie wandte sich ihm zu, dem Meister , der nun alles andere war als ein Meister der Verführungskunst. Die erste Annäherung ging denn auch von ihr aus. Für den Meister völlig neu. So neu, daß er willenlos …
»… in die Netze dieser Spinne geriet«, sagte Carlone in der Madonna . Er war wie verwandelt. Er war nicht mehr er selber. Er war nicht mehr der Meister . Er war Tom der Raimer.
*
Es muß jetzt etwas klar auf den Tisch gelegt werden: War das schon kriminell? Ging es über das hinaus, was man einen Schwindel nennen kann?
Als Jurist muß ich sagen: ja.
Es erfüllte den Tatbestand des Betruges.
Meister , der Fälscher.
Daß er selber es als Betrug im strafrechtlichen Sinn betrachtet hätte, ist eher unwahrscheinlich. »Es schadet niemandem«, hätte er gedacht, wenn er darüber nachgedacht hätte.
Er schrieb zahllose Artikel für das Lexikon des Herrn Leipisius und dessen Verlag. Er schrieb Sachartikel zu: Oper , Operette, Singspiel oder Kontrapunkt, Verwechslung, enharmonische oder Violine, Fagott und so fort, aber auch Personenartikel: Buxtehude, Dieterich oder Nicolai, Otto oder Thuille, Ludwig – die großen Namen allerdings wurden an andere Mitarbeiter vergeben, an Koryphäen: Beethoven, Mozart, Verdi … Der Artikel zum Stichwort Violine war umfangreich. Das kann man sich vorstellen bei des Meisters Perfektionswut. Außerdem, das wird gleich noch eine Rolle spielen, wurde der Meister nach Zeilen bezahlt, nicht schlecht übrigens. Leipisius ließ sich bei diesem seinem Lieblingsprojekt nicht lumpen. Der Meister zerlegte (virtuell, versteht sich) im Artikel Violine dieses Instrument in alle Teile und Facetten und kam dabei auch auf die Hardangerfiedel zu sprechen, besser gesagt: zu schreiben. Es fiel ihm die seinerzeit vom Göttlichen Giselher auf dem Flohmarkt erworbene Hardangerfiedel ein, er ging hin, lieh sie sich aus und begann auf dieser norwegischen Seitenvariante der Geige herumzukratzen. Behauptete: Er spiele. »Nicht schön, aber richtig.«
»Nun ja«, sagte Carlone in der Madonna , »du hast ihn nie ›spielen‹ gehört?«
»Nein, leider.«
»Als er einmal in Gegenwart des Göttlichen Giselher fiedelte, erklärte dieser in vollem Ernst, er sehe dabei richtiggehend die Fjorde vor sich bei Sonnenuntergang oder auch Sonnenaufgang … nahm dann die Gelegenheit wahr, einen Vortrag über Fjorde zu halten, vom Geologischen bis zum ›Fliegenden Holländer‹.«
»Und war nie selber in Norwegen?«
»Du kannst fragen!«
Vielleicht hätte Herr Leipisius dem Meister den einen oder anderen großen Namen geben sollen. Vielleicht wäre der Meister dann nicht auf diese Idee gekommen: Er erfand Komponisten.
Es ist schwer nachzuweisen, daß es etwas gibt, das angezweifelt wird. Es ist aber fast unmöglich nachzuweisen, daß es etwas, dessen Vorhandensein jemand behauptet, nicht gibt. Darauf baute der Meister .
Schadet es auch nur einem Menschen, wenn es, zum Beispiel, folgenden Komponisten nicht gibt:
Weischädl (Weihschädl, Weischädel), Johann Kaspar,
geb. ca. 1654 in Zwickau, gest. 21. 7. 1703 in Ludwigsburg.
Organist und Komponist. Er stammte aus einer Organistenfamilie und ist erstmals nachweisbar … etc. etc.
1694 wurde er von Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg an dessen Hof gerufen, wo er auch als Violaspieler …
Seine Werke, darunter eine Festmusik zur Taufe des Prinzen Friedrich Ludwig, sind verloren. Erhalten ist lediglich eine Toccata für Orgel in C-Dur …
Literatur: P. F. Stälin, »Geschichte Württembergs…«
Fr. Baser, »Musikheimat Baden-Württemberg«, Freiburg 1963
G. G. Bächler, »Die Hofmusik in Ludwigsburg …«
K. D. Gräwe, »Tausend Jahre Orgel in Baden und Württemberg …«
…
D. Thoma, »Eine wiedergefundene Orgeltabulatur von J. K. Weischädl (?)« in »Beitr. zur …«
…
usw.
Oder:
Hupfauf, Ferdinand, geb. 22. 4. 1828 in Fischamend, gest. 30. 1. 1871 in Wien. Sohn eines Drechslers. Erlernte zunächst dieses Handwerk, als seine große musikalische Begabung … durch Vermittlung des Abtes von Heiligenkreuz
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