Der Meister
saß in einer Villa in einem der besten Stadtviertel. Leipisius hieß der Verleger, er empfing Carlone und den Meister in einem Raum, der eher ein Salon als ein Büro war. Leipisius war ein großer Mann mit noch größeren Ohren. Er war nicht dick, sondern fleischig, besonders seine Ohren. Sein Anzug war auf unaufdringliche Weise tadellos, für einen Lord aus dem Kriminalroman nicht zu schlecht.
Ja, sagte Leipisius, in der Tat sei er dabei, eine musikalische Sparte in seinem Verlag aufzubauen. »Aber es ist schwer, sehr schwer.«
»Fast alles ist schwer«, sagte Carlone, der mehr als der Meister das Gespräch führte.
»Eine Sibelius-Biographie? Hm, hm.«
Aber er werde sie prüfen. Nicht ein Lektor werde sie prüfen, er selbst. Wieviel Seiten? Über fünfhundert? Hm, hm. Noch nicht fertig? Und wie lange würde es noch dauern? Hm, hm. »Darf ich eine Erfrischung anbieten?«
Nach der Erfrischung entließ Herr Leipisius die beiden mit der Zusage, sich demnächst zu melden.
»Von dem hören wir nie wieder etwas«, sagte der Meister draußen, als sie auf die Trambahn zum Hauptbahnhof warteten.
»Das Gefühl habe ich auch«, sagte Carlone.
Aber sie irrten sich. Leipisius meldete sich schon recht bald – allerdings mit einer Absage. Ein höflicher Brief lag dem retournierten Manuskript bei. Man merkte an dem Brief, daß Leipisius es tatsächlich gelesen hatte, daß er vielleicht wirklich erwogen hatte, das Buch zu machen. Aber es sei leider so, stand in dem Brief, daß eben eine bedeutende Sibelius-Biographie in fünf Bänden zu erscheinen beginne, eine vorzügliche englische vorliege – leider –, und dann sei das mit Sibelius so eine Sache: Adorno, man wisse ja …
Zum Glück hatte um die Zeit der Meister seinen Durchfallsschrecken einigermaßen weggedrückt, so daß die neue Enttäuschung nicht so schwer wog.
Und es kam unerwartet kurz darauf noch ein Brief vom Verleger Leipisius. Der Meister zeigte ihn Carlone: »Was hältst du davon?«
Herr Leipisius schrieb, daß es zwar schwer sei, sehr schwer, neben den großen Enzyklopädien Riemann und MGG ein Lexikon der Musik herauszugeben, aber er wage es. Nicht so sehr wissenschaftlich, eher praxisbezogen – »fast möchte ich sagen: lesbar«. Und er forderte den Meister zur Mitarbeit auf.
»Nichts wie hin«, sagte Carlone.
*
Es vergingen einige Jahre. Carlone hatte promoviert, die Stellung eines Dramaturgen in einer anderen Stadt angenommen, verfolgte immer noch mit Herzenswärme das Schicksal des Fußballvereins Arminia Bielefeld (das hatte, was Schicksale nicht ungern haben: Launen), heiratete, zeugte zwei, wie sich später herausstellte, bestechend schöne Töchter, kam aber sehr oft, ja regelmäßig zurück, nicht zuletzt, um die freundschaftliche Beziehung zum Meister aufrechtzuerhalten. Der Vater, dem das Ganze letzten Endes nicht mehr verheimlicht werden konnte, überlebte den Schlag recht gut. Carlone hatte aber auch wohlweislich den günstigsten Zeitpunkt ausgewählt, um den alten Herrn mit den unerwünschten Gegebenheiten zu konfrontieren. Auch der alte Herr war Fan vom F. C. Arminia Bielefeld, sogar Sponsor, und Carlone hielt ihm die Doktorarbeit unter die Nase, als das den Klassenerhalt garantierende, erleichtert bejubelte Tor in der Fernsehübertragung fiel.
Der Meister seinerseits lebte von dem nicht üppigen, aber ausreichenden Zinsertrag des Dorpatschen Legats und von den Lexikonartikeln, die er für den Verlag von Leipisius schrieb.
Es ergaben sich ungefähr zur selben Zeit zwei Konstellationen, die sich als zwei entscheidende Weichenstellungen für des Meisters Lebensgleise erweisen sollten. Beide zunächst unauffällig.
Carlone nahm ihn eines Tages zur Wilden Bühne mit. Die Wilde Bühne war weder eine Bühne noch eigentlich wild, es war ein Kreis gesetzter Herrschaften, der sich dreimal im Jahr damit unterhielt, einander mit verteilten Rollen Theaterstücke vorzulesen. Also eine fiktive Bühne, und »wild«sollte auf einen gewissen Wildwuchs hindeuten, denn man schreckte nicht vor den anspruchsvollsten Perlen der dramatischen Weltliteratur zurück. Der Kreis gruppierte sich um ein Brüderpaar und die dazugehörigen Ehefrauen, und wenn eben von »gesetzt« die Rede war, so bedarf das einer gewissen Erklärung. Das intellektuelle Tellerbord der Brüder und der anderen Zugehörigen war in schwindelnder Höhe angedübelt. Ähnliches ist vom gesellschaftlichen Unterfutter des Kreises zu sagen: Das schauspielerische Haupttalent war
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