Der Meister
grenzte.
»Und merkwürdig«, sagte er später einmal zu mir, als wir uns wieder einmal an die Sache erinnerten, »daß der Generalvikar dieses Bild vom Guten Hirten als Argument hat gelten lassen. Ich glaube nicht, daß der historische Jesus so mit dem Schaf über dem Rücken herumgelaufen ist.«
»Ein Bild eben«, sagte ich.
»Die Gefahr«, sagte Rohrdörfer, »daß der Glaube ins heidnische Similacrum abgleitet.«
»Das sagen Sie ?«
»Aber predigen würde ich es nicht.«
Wir saßen bei diesem Gespräch in Helene Rombergs kleiner Wohnung. Adresse: Rondell 4. Sie hieß da schon wieder Romberg. Ihr Sohn studierte in Amerika. Das butzenbescheibte Pfarrhaus lag etwa fünfhundert Meter weiter stadteinwärts.
*
Die Feier anläßlich der Emeritierung von Professor Goblitz erlebte ich noch in meiner Zeit der ephemeren Zugehörigkeit zum Kreis der Musikologen. Der Meister glänzte durch eine Improvisation über ein von ihm erfundenes Zwölf-Ton-Thema:
Des Fisches G. (= Goblitz) Fas(s) – Bad
Zu der Erklärung, was ein »Faß-Bad« sei, ließ sich der Meister nicht herab. Es sei schwer genug gewesen, die Tonfolge zu erfinden. Sie zu interpretieren sei zuviel verlangt.
Der Meister improvisierte eine vierstimmige Fuge auf dem Cembalo über dieses mehr als sperrige Thema, das dann so lautete:
Es trat der seltene Fall ein, daß dem Professor Goblitz ein Lächeln entglitt.
Und alles andere über des Meisters mehr als erstaunliches Schicksal erfuhr ich erst Jahre später bei jenem Abendessen mit Carlone in Venedig in der Madonna .
Die Frage der Nachspeise trat an uns heran. Carlone überlegte allerdings, ob er sich nicht eine dritte orata »zulegen« solle. Er war der alte geblieben: Er konnte immer schon unbegrenzt essen. »Nicht aus Freßgier«, pflegte er zu sagen, »nicht eigentlich auch, weil es mir schmeckt, nein, ich habe die immerwährende Angst zu verhungern.«
Zu verdursten auch, nebenbei.
*
So erzählte Carlone, während er, allerdings langsamer werdend, die dritte orata verzehrte, vom Meister und wie es mit ihm weitergegangen war.
Dr. Dorpat hatte ihm in seinem Testament ein für des Meisters Maßen beträchtliches Legat hinterlassen. Es reichte nicht nur für eine neue Hose, sondern sogar für die Miete einer kleinen Zweizimmerwohnung. Sparsam ging er damit um, legte einen Teil des Geldes an und so fort. Auch das Manuskript des Sibelius-Buches und alle Unterlagen, die sich dazu angesammelt hatten, wurden – so im Testament bestimmt – dem Meister ausgefolgt mit dem Bemerken, daß es ihm freigestellt sei, das Werk zu vollenden und herauszugeben.
Das war leichter gesagt als getan.
*
Es wußten nur wenige, eigentlich außer den unmittelbar Beteiligten nur Carlone, der der engste, der vertrauteste Freund des Meisters war, dass sich der Meister endlich zu einer der vorgeschriebenen Zwischenprüfungen gemeldet hatte: in Altfranzösisch. Und er war durchgefallen. Es gibt solche Fälle gar nicht so selten. Während bei manchen die Anspannung bei Prüfungen sie zu Höchstleistungen bringt, zur Aktivierung aller Quellen, zu höheren Leistungen, als ihnen eigentlich gegeben (und dem Absacken danach), blendet die heiße Prüfungsangst beim anderen alles aus, sein gespeichertes Wissen ist plötzlich erloschen, er versagt. So beim Meister . Ohne Zweifel konnte in seinem Fall der Prüfer ihm an Wissen nicht das Wasser reichen, aber die Angst durchzufallen versperrte alles. Und so fiel er durch.
Er war zerschmettert. Carlone versuchte ihn zu trösten, es half nichts. Monatelang wagte der Meister nicht, nach Hause zu fahren, fürchtete die Frage der Mutter. Und nie mehr, nie, nie mehr stellte er sich einer Prüfung. Seine Doktorarbeit blieb unvollendet. Dafür schrieb er eine andere, von der noch zu reden sein wird.
Um ihn von den sinnlosen Grübeleien abzulenken, die fast schon zu Selbstmordüberlegungen führten, ermunterte ihn Carlone, sich weiter mit Dorpats hinterlassenem Werk zu beschäftigen, das ohnehin zum Teil inzwischen sein, des Meisters, Werk war, daß er vor allem versuchen solle, einen Verleger dafür zu finden.
Sie fuhren zusammen nach Frankfurt. Carlone hatte früher schon bei den in Frage kommenden Verlagen wie Schott oder Bärenreiter vorgefühlt, aber nur ein Abwinken eingefahren. Dr. Rosenfeld, der Hauptassistent, gab den Tip: Ein kleiner, aber feiner Verlag in Frankfurt beginne musikologischen Ehrgeiz zu entwickeln und habe, ein seltener Fall, offenbar zu viel Geld.
Der Verlag
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