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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosendorfer Herbert
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Zeile um Zeile der Werkverzeichnisse herunterzufahren. Vom estnischen Komponisten Juhan Aavik bis zum Niederländer Bernard Zweers. Dabei stieß sie zwangsläufig auch auf Thremo Tofandor, den der Meister unter anderem ein Konzert für Harfe und Blechbläser op. 84 hat schreiben lassen, mit dem Untertitel »Die Wasserkugel«. Fräulein Bärlocher stutzte und schrieb an die Redaktion des Leipisius-Lexikons, daß sie sich wundere, warum hinter dem Geburtsdatum Tofandors ein Fragezeichen stehe. Bei mittelalterlichen und vielleicht sogar noch bei Barockkomponisten sei das einzusehen, bei einem offenbar noch lebenden könne man doch meinen, man brauche ihn nur zu fragen.
    Der Cheflektor im Verlag schüttelte den Kopf, in dem er eigentlich anderes, Wichtigeres hatte, und sandte den Brief mit der Bitte um Beantwortung an den Verfasser des betreffenden Artikels weiter: an den Meister .
    Der erschrak furchtbar, war er doch ohnedies eher von der schreckhaften Seite.
    »Das hast du davon«, spottete Carlone.
    »Und was soll ich machen?«
    »Laß den Brief liegen. Vielleicht vergißt sie die Sache.«
    Aber Fräulein Bärlocher vergaß die Sache mitnichten. Es kam ein weiterer Brief – auch über den Verlag –, in dem sie um Antwort bat und außerdem um Aufklärung darüber, was eine »Wasserkugel« sei.
    »Das kannst du ja wohl beantworten«, sagte Carlone, »du schreibst kühl und sachlich: Liebes Fräulein, woher soll ich wissen, was sich der mir im übrigen persönlich nicht bekannte Komponist Tofandor unter einer Wasserkugel vorgestellt hat. Ich erlaube mir die Vermutung: gar nichts.«
    Der Meister schrieb tatsächlich in diesem Sinn, allerdings etwas konzilianter.
    Damit hatte Fräulein Bärlocher (Adriane mit Vornamen) die Adresse. Prompt kam ein Brief ohne Umweg über den Verlag. Sie habe sich, schrieb Fräulein Bärlocher, viele Gedanken über Tofandor gemacht, obwohl dessen Person und Werk nicht im Mittelpunkt ihres Referates stehe, das im übrigen seiner Vollendung entgegengehe. Es wundere sie, daß Tofandor in keinem der anderen Nachschlagwerke verzeichnet sei, und sie frage sich, »wie Sie, sehr geehrter Herr Wibesser, auf diesen Komponisten gekommen sind«.
    »Jetzt wird es ernst«, stöhnte der Meister .
    »Ach was«, sagte Carlone, dessen Gemütsruhe unter anderem auf der Lebensgrundlage beruhte, daß es für alles eine Lösung gibt, wenn man das Problem nur lang genug hinausschiebt: »Laß den Brief einfach liegen.«
    Aber das ging dem Perfektionisten Meister harsch gegen den Strich: noch einen Brief unbeantwortet zu lassen. Durch den Hinweis seitens eines Freundes auf einen Artikel in einer alten Musikzeitschrift, schrieb der Meister , sei er auf den Namen Tofandor gestoßen, und da er sich immer schon für abseitige Dinge in der Wissenschaft interessiert habe, sei er diesem Namen nachgegangen, und so sei es zu dem Lexikonartikel gekommen, den Tofandor immerhin, meinte der Meister, verdiene. Postwendend kam ein weiterer Brief von Fräulein Bärlocher – und bald die Frage, ob sie den Meister besuchen dürfe. Tofandor interessiere sie zunehmend, und auch ihr Doktorvater sei förmlich elektrisiert von diesem offenbar unterschätzten Komponisten.
    Eine Zwischenbemerkung, weil der Leser vielleicht danach fragt: Emma Raimer berührte das Ganze überhaupt nicht. Einmal nahm sie schon von vornherein keinen inneren Anteil an des Meisters Arbeit, und dann war sie zu der Zeit mit der Vorbereitung auf ihr Rigorosum beschäftigt. Wie das vor sich ging und wie es überhaupt zum Rigorosum kam, wird noch darzustellen sein.
    *
    Carlone gab den Rat, ein umfassendes Geständnis sowohl Leipisius als auch Fräulein Bärlocher gegenüber abzugeben mit der zerknirschten Versicherung, nie mehr so etwas zu tun. Der furchtsame Meister konnte sich dazu nicht aufraffen. Er traf sich mit der etwa zwei Meter lang geratenen Bärlocher, die aber im übrigen sehr nett war, und erzählte ihr das Blaue vom Himmel herunter.
    »Hast du wenigstens aufgeschrieben, was du ihr vorgelogen hast? Damit du dir später nicht widersprichst?« Diese Warnung allerdings war dem perfektionistischen Meister gegenüber überflüssig. Er hatte bereits einen Zettelkasten »Tofandor« angelegt: weitere Einzelheiten zu Tofandors Leben, unter anderem daß er dreimal verheiratet gewesen war, zuletzt verwitwet. Von seiner letzten Frau habe er ein Unternehmen geerbt, das sich mit der Einrichtung von Meerwasserentsalzungsanlagen befasse. Dieses in der Nähe von

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