Der Meister
immerhin erzählte er von zwei Rechtsanwälten, die er kannte und die sich den Jux machten, nach Brüssel zu schreiben, daß sie die jeweiligen Parteien verträten, die sich in einem Rechtsstreit befänden, in dem der Traktorsitz eine Rolle spiele.
Prompt kam die Antwort: ein Bündel Papier, schätzungsweise ein halbes Kilo, die komplette EU -Richtlinie den Traktorsitz betreffend. In Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, ja, auch Deutsch. Niederländisch, Dänisch, Maltesisch … Lateinisch? Nein, Lateinisch nicht. Aber Letzeburgisch, Flämisch, Gälisch … was hat das wohl gekostet, diese ganze Übersetzerei? Und leider hat der Göttliche Giselher versäumt sich zu vergewissern, mit welcher Vokabel sich die Übersetzer beim Sitzbezugspunkt beholfen haben:
seat – referent – point?
point de référence en siège?
punto – rapporto – sedile?
Locus sedis relationis …
(Für den Fall, daß der Vatican-Staat der EU beitritt.)
Die beiden Rechtsanwälte amüsierten sich mit der Lektüre der Richtlinie, wobei allerdings bald Ermüdung eintrat. So lustig wie mit dem Sitzbezugspunkt ging es nicht weiter. Aber sie beschlossen, es damit nicht genug sein zu lassen, schrieben noch einen Brief nach Brüssel, daß sie nähere Aufklärung über diesen oder jenen Punkt bräuchten. (Filterten haarsträubende Rechtsprobleme aus den dunklen Paragraphenspalten dieser Richtlinie.)
Es kam eine unerwartete Antwort, nämlich ein stark qualmender holländischer Gigantenklotzkopf von niederschmetternder Freundlichkeit, der sich als Europa-Unterkommissär für Traktorsitze (oder so ungefähr) vorstellte, nebst Dolmetscher. Er tönte – quasi durch den Dolmetscher hindurch – auf die beiden Rechtsanwälte hinunter, daß er glücklich über die Anfrage sei, weil bisher nie, nie jemand von dieser schönen Traktorsitz-Richtlinie Gebrauch gemacht habe, die Traktorsitze seien, europäisch gesprochen, nach wie vor ein Wildwuchs, und endlich also, endlich! und so fort.
Die beiden Rechtsanwälte einigten sich schlagfertig und nach nur einem Blickwechsel auf die Ausrede, daß sich die Sache durch einen leider eben nach Absendung des Briefes geschlossenen Vergleich zwischen den Parteien erledigt habe. Das entsprechende Schreiben nach Brüssel habe man eben diktieren wollen …
»Schade, schade«, ließ der Holländer dolmetschen, verlor aber nichts an Freundlichkeit und erkundigte sich nach einem Restaurant, wo man ordentlich essen könne. Der Reiseetat des Holländers war offenbar unerschöpflich. Es wurde ein richtig europäischer Abend. Der Holländer bestand darauf, daß die Rechtsanwälte ihre Damen herbeiholten, bedauerte, daß die Parteien oder eben deren Chefs oder Geschäftsführer dummerweise heute verhindert seien, aß spielend sieben Gänge, und zum Schluß stieß man mit
»Ach wie herrlich perlt die Blase
Witwe Klickos in dem Glase«
auf den europäischen Traktorsitz an.
*
So waren Brüssel, die Europäische Union, der Traktorsitz und dessen Sitzbezugspunkt der Grund für das Zerbrechen von Helene Rombergs Ehe.
Wäre es anders gekommen, wenn sie mitgegangen wäre nach Brüssel? Den ganzen Hausstand dorthin verlegt hätte? Wer weiß. Sie war anfangs oft dort, aber auch Winter war eigentlich nicht anders als »oft dort«. Der Dienst schien sehr locker zu sein, und es fiel, so scheint es, nicht auf, wenn der Beamte vom Wochenende (Freiflug nach Hause, selbstverständlich Senator Class … für Beamte vielleicht eine Nummer kleiner) erst am Donnerstag an seinen Schreibtisch zurückkehrte und: »Alles in Ordnung? Gibt’s was Neues? Nein? Dann ein schönes Wochenende allseits –« in den Raum warf. Offenbar hält man auch dort in Brüssel den Grundsatz hoch, daß ein Beamter, der nicht da ist, keine Fehler machen kann.
Aber mit der Zeit blieb Winter auffallend oft auch übers Wochenende in Brüssel. Über zwei Wochenenden. Mietete eine größere Wohnung. Von einer Übersiedlung Helenes war nicht mehr die Rede. Ihr war es recht, und es war ja ohnedies nur eine Frage der Zeit, bis Helene der Grund für ihres Mannes Verhalten klar wurde: Blandine Sellebien.
*
Es fing damit an, daß eine fleißige Studentin der Musikwissenschaft für eine Seminararbeit alle einschlägigen Musiklexika nach Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts durchforstete, die Konzerte für Harfe und Orchester geschrieben hatten. Bärlocher hieß die Fleißbiene: Zwei Monate hatte sie gebraucht, um mit dem Zeigefinger
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