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Der Meister des Drakung-Fu

Titel: Der Meister des Drakung-Fu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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augenblicklich ruhig. »Kerul«, begann er mit tiefer Stimme. »Ich gebe dir eine letzte Chance. Bajar wird den Yak für dich wieder einfangen ...«
    Bajar knurrte, verstummte aber sofort, als Dschingbiss Zhan ihm einen unmissverständlichen Blick zuwarf.
    »Und du wirst deinen Sieg bis auf den letzten Blutstropfen auskosten. WIE ES DIE TRADITION WILL!« Bei den letzten Worten stieß Dschingbiss Zhan den Knochenstab heftig in den trockenen Boden. Sein bronzefarbener Helm verrutschte.
    Kerul presste die Lippen aufeinander, sah zu Boden und schüttelte den Kopf.
    »Du weigerst dich noch immer?«, fragte Dschingbiss Zhan ungläubig. Er hatte schon viele sture Vampgolen erlebt, aber noch nie einen, der sich weigerte, einen gut durchbluteten Yak auszusaugen. »Damit verstößt du gegen unsere jahrtausendealte Tradition und beleidigst nicht nur Bajar, sondern alle Vampgolen!«
    Die Bewohner von Ulan-Vampor raunten zustimmend. Manche hoben vor Entrüstung kurz vom Boden ab. Manche fauchten Kerul an.
    Kerul hob den Kopf und sah dem Großmeister fest in die Augen. »Ihr habt selbst gesagt, dass der neue Drakung-Fu-Meister weitsichtig sein muss und den Weg in die Zukunft weisen soll. Vielleicht muss man dazu mit manchen Traditionen brechen.«
    Die Umstehen schrien entsetzt auf.
    Bajar sah Kerul fassungslos an.
    Die Stäbchen in Dschingbiss Zhans grauem Bart wackelten. Seine Lippen bebten. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihm, dem weisen Großmeister, zu widersprechen. Das war zu viel! Er konnte sich nicht von so einem Milchzahnvampi auf der Nase herumtanzen lassen. Er erhob sich in die Lüfte, breitete die Arme aus und verkündete mit donnernder Stimme: »Kerul Tschagatai Jugur Selenga, hiermit schließe ich dich aus der Gemeinschaft von Ulan-Vampor aus. Du wirst auf Wanderflug gehen und erst ins Dorf zurückkehren, wenn du geläutert bist und die Regeln des Drakung-Fu sowie unsere Tradition verinnerlicht hast und bereit bist, danach zu leben.«
    Die Bewohner von Ulan-Vampor klatschten, klapperten mit den Eckzähnen und nickten.
    »Der soll sich erst mal die Flausen aus dem Kopf fliegen!«, rief ein alter Vampgole.
    »Der ist noch grün hinter den Eckzähnen!«, meinte eine Vampgolin.
    »Aber ihr könnt ihn doch nicht einfach verstoßen!«, rief jemand in der ersten Reihe. Es war Keruls Mutter. Sie sah den Großmeister flehend an.
    »Ich verstoße ihn nicht«, erklärte Dschingbiss Zhan. »Wenn Kerul sich besonnen hat, kann er zurückkehren.«
    Kerul flog zu seiner Mutter. Er legte die Hände auf ihre schmalen Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich nach dem Willen von Dschingbiss Zhan und dem der Bewohner von Ulan-Vampor richten. Und ich werde zurückkehren.«
    »Aber wo willst du denn hin?«, fragte Keruls Mutter.
    Kerul umarmte sie und flüsterte ihr zu: »Zu Freunden. Es sind die besten und einzigen Freunde, die ich habe.«
    Keruls Mutter wollte noch mehr fragen, doch Kerul zog sie liebevoll an der Nase, drehte sich um und erhob sich in den Nachthimmel. Er schwebte einen Moment über der Senke und ließ den Blick über die Dorfbewohner schweifen, bis er bei Dschingbiss Zhan ankam. »Vielleicht bin ich noch grün hinter den Eckzähnen, vielleicht werde ich niemals ein großer Drakung-Fu-Meister. Aber eine alte mongolische Weisheit besagt: Besser ein dummer Wanderer als ein Weiser, der zu Hause sitzt.« Mit diesen Worten schlug Kerul einen Salto in der Luft, wedelte kräftig mit den Armen und flog über die mongolische Steppe davon. Einen Moment glich er einer Sternschnuppe.

Langstreckenflug
    K eruls dunkelbraune Haare waren vom Gegenwind zerzaust, vom Regen und Nebel verklebt und standen nach hinten ab wie ein aufgestellter Papageienkamm. Die letzten drei Nächte war er ununterbrochen geflogen. Er hatte über 6000 Kilometer hinter sich gebracht. Tagsüber hatte er sich in Felsspalten, Höhlen oder Kellern vor dem Sonnenlicht in Sicherheit gebracht. Er hatte mit Pflanzensaft seinen Durst gestillt und mit Beeren seinen Hunger. Er vermisste seine Heimatjurte, den Sternenhimmel über der Wüste Gobi und die schwarzen Kieselaugen seiner Mutter. Aber es gab kein Zurück mehr. Zumindest nicht, solange er nicht bewiesen hatte, dass er des Titels eines Drakung-Fu-Meisters würdig war.
    Kerul schmerzten die Arme, sein Nacken war steif. Noch nie in seinem Leben war er über die Grenzen der Mongolei hinausgeflogen. Er spürte, dass er am Ende seiner Kräfte war. Erst die Kämpfe um die

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