Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
Ankläger streckte sich, donnerte von seinem Platz in beide Chöre:
»Seht hin und hört alle genau zu!«
Seine Hand wies nun seinerseits auf Dreyling, der sich mit der rechten Hand über Mund und Wange wischte.
»Seht genau hin: Dreyling wischt sich das Maul und leugnet!
Er habe die Knappen keineswegs aufgewiegelt.
Er will das Opfer sein.
Er will die Fragen stellen, die er beantworten soll.
Er fragt nach Zeugen und Beweisen!«
Leoman von Schiller-Herdern stand auf den Zehenspitzen, ballte die Hand zur Faust. Seine Stimme hatte eine Lautstärke erreicht, die bei den Menschen Beklemmung hervorrief:
»Es sind seine Worte, seine unverschämten Fragen, mit denen er versucht, auseinander und vorüber zu reden! Genau eben diese Reden«, Leoman stieß im Takt zu seinen Worten die Faust nach oben und wiederholte: »Genau diese Reden – wir haben sie alle vernommen! Sind das nicht wahrlich Kostproben seines aufwieglerischen Könnens, Kostproben seines rebellischen Geistes?
Aber, Dreyling, höre, du hast nur eines nicht bedacht: Deine Reden beschuldigen und überfuhren dich! Nur wer diese Sprache kennt, wer so offen seine Art zu reden hier vorführt wie du, der hat in dieser Minute bewiesen, daß er den Frieden und die Wohlfahrt der Tiroler Nation zu gefährden weiß, ja gar aufzuheben versteht!
Was sollen wir aus deinen Worten anderes schließen …«
Dreyling fiel ihm zornig ins Wort:
»Schließen sollt Ihr daraus, daß Irren schändlich ist! Noch schändlicher ist es aber, den bewußten Irrtum zu verteidigen! Am allerschändlichsten ist es aber, den Irrtum, Ankläger, nicht abstellen zu wollen, sondern ihn zu mehren und aufzuhäufen wie taubes Gestein vor den Stollenlöchern am Falkenstein!«
Das Schlagen des Judenhammers lähmte alle weiteren Worte.
»Es ist genug!« unterbrach der Bergrichter ärgerlich die Auseinandersetzung. »Ankläger! Verzichtet auf Verdrehungen und Verdunkelungen des Streitpunkts, denn damit steht Ihr jenseits von Falsch und Richtig. Bringt die Wahrheit an den Tag – und nichts anderes als die Wahrheit! Ich wünsche eine ordnungsgemäße Befragung des Angeklagten!
Und Ihr, Angeklagter, beantwortet im Namen Gottes redlich die gestellten Fragen. Schwört ab den Angriffen und haltet Euch ebenfalls an die Regeln!
Ankläger, beginnt endlich mit der Befragung!«
»Angeklagter«, nahm Schiller-Herdern erneut Anlauf. »Da du ein frommer Zögling sein und kein Wasser trübe gemacht haben willst, dabei sogar protestierst, du hättest nichts Böses getan – so begehre ich von dir, Dreyling, drei Dinge zu wissen:
Warum warst du Anno Domini 1574 der Anführer des Knappenhaufens?
Warum hast du die Knappen nach Hall geführt in offenem Aufruhr, in den du auch noch die Bauern mit hereingezerrt hast?
Und schließlich: Warum hast du die Nacht davor das Haus unseres ehrwürdigen Herrn Markus Fugger gestürmt und verwüstet?
Antworte!«
Adam Dreyling, der bis dahin den Knappen, der Berggemeinde, den hohen Herren auf der Empore, dem Tiroler Volk seinen Rücken zugekehrt hatte, drehte sich langsam um:
»Knappen von Schwaz! Ich habe gehört, daß etliche unter Euch mir nach dem Leben trachten und begierig sind, ihre Hand in meinem Blut zu waschen. Euer Durst nach meinem Blut wird aber vergehen, wenn Ihr bereit seid zu prüfen, ob ich oder wir allesamt damals, Anno ’74, tatsächlich zum offenen Aufruhr wider die Obrigkeit ins Feld gezogen sind oder nicht …«
1
Die Katastrophe
Schwaz
1574
Montag,
der 26. April
»Ich erwarte Euch dringend im großen Raber-Liegendbau!«
Die Nachricht von unserem »Bergschrat«, dem Schichtmeister Peter Gstein, verhieß nichts Gutes.
Gegen Mittag krieche ich durch den niederen Verbindungsstollen zu unserem reichsten Erzlager. Als ich mich tief gebückt durch den engen Gang zwänge, gurgelt mir das Wasser bis über die Knie. Schon jetzt zum Beginn der Schmelze, haben sich die plätschernden Rinnsale zu kleinen Wildbächen zusammengeschlossen. Das große Wasserrad kann den Schrägschacht gerade noch trocken halten. Die Arbeit der Männer ist noch schwerer als sonst, stehen sie doch teilweise bis zu den Hüften im eisigen Wasser. Dann bin ich durch, richte mich auf, atme mir die erdrückende Enge des Stollens aus der Brust.
Wie immer bin ich überwältigt von der Majestät dieser riesigen, einst mit Fahlerz gefüllten Kaverne, die sich schräg nach oben zieht. Der Berg ist an dieser Stelle schon vor mehr als sechzig Jahren buchstäblich von oben her
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