Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
kreisen unaufhörlich um den verfluchten Schiefer. Wie immer wir entscheiden, das Leben der Männer ist mir in die Hand gegeben.
Für den Augenblick bin ich froh, aus dem Stollenmund ins Tageslicht hinaustreten zu können. Etwas erleichtert erkenne ich die hoch aufragende Gestalt des Bergmeisters unter den schon wartenden Knappen der Mittagsschicht.
»Glück und Heil dem löblichen Bergbau, Bergmeister!« – »Durch Christentum viel Glück und Heil, Schiener«, begrüßen wir uns.
Mit kurzen Worten schildere ich ihm die Schwierigkeiten auf der Sohle des Raber-Liegendbaues.
Der Blick seiner farblosen Augen scheint durch mich hindurchzugehen, doch dann nickt er:
»Ich werde den Leuten der nächsten Schichten sagen, daß sie den Schiefer nicht anrühren. – Ihr habt heute Spätschicht, Dreyling? Dann treffen wir uns zur halben Schicht an der Krame vor dem Sigmundstollen. Und seid so freundlich, die Herren Fugger vorsorglich von der Lage im Raber-Liegendbau zu unterrichten. Von Euch daheim sind es nur ein paar Schritte zum Fuggerhaus hinüber.«
Ein kurzer, fester Händedruck.
Die Campana dröhnt zum Schichtbeginn, die Knappen der zweiten Schicht drängeln sich zum Stollenmund hinein, während ich mich auf den Heimweg mache.
Zu sehr hängen meine Gedanken im Berg, als daß mich der schöne Frühlingstag erfreuen könnte. So nehme ich nur beiläufig das Sonnenlicht wahr, das auf den Schneefeldern des Karwendels unter einem tiefblauen Himmel glitzert, wenig von den dunkel gepflügten Quadraten der Äcker und den frisch hellgrünen der Wiesen, von den blühenden Büschen und Bäumen und den grün gurgelnden Wassern des Inns.
Bei den Schmelzhütten hole ich meinen Bruder Ulrich ab. Er ist ein großer, breitschultriger Mann, der stets Gelassenheit ausstrahlt, in Wahrheit aber zu heftigen Temperamentsausbrüchen neigt, was ihm so mancher kaum zutrauen mag. Vielleicht scheint er deshalb nur Ruhe auszustrahlen, weil das Dröhnen der Erzpochwerke seinen Gehörsinn so sehr beeinträchtigt hat, daß man sich mit ihm nur noch halb schreiend verständigen kann.
Ich mag seine bullige, etwas bärbeißige Art, sein frühzeitig ergrautes Haar samt Bart, seine kühn gebogene Nase und seine überraschend weichen, graublauen Augen, die mich immer an unseren vor knapp einem halben Jahr verstorbenen Vater erinnern.
Zusammen schreiten wir der Stadt zu, überqueren die Brücke des Lahnbaches, gehen am Totenhäusel und an der Liebfrauenkirche vorbei, die in neuer Pracht in den Himmel ragt. Etwas weiter biegen wir am Rathaus links in die Burggasse ein, erreichen wenig später unser Haus – unmittelbar gegenüber dem Franziskanerkloster. Zudem befindet es sich, wie unser Vater es immer ausgedrückt hatte, in Spuckweite des Fugger-Palais.
Auf der Gasse steht eine prächtige Kutsche, deren Pferde friedlich aus Futtersäcken Hafer kauen.
»Unser teurer Herr Bruder scheint uns wieder einmal die Ehre zu geben«, bemerkt Ulrich bei diesem Anblick unwirsch.
Wir steigen die Stufen zum Eingang hinauf, stampfen uns die Stiefel ab, betreten das Haus.
»Ulrich? Adam? Wo habt Ihr Euch denn schon wieder so lange herumgetrieben?« schallt die Stimme Frau Reginas, unserer Mutter – genauer unserer Stiefmutter – aus der großen Stube.
Ulrich brummt nur etwas in seinen Bart und trampelt die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.
Ich trete in die Tür. Der große Tisch ist mit feinstem Damast, mit Silber und Kerzen gedeckt. Und auf dem Ehrenplatz am Kopfende der Tafel – eigentlich dem Platz unseres verstorbenen Vaters – thront kein anderer als unser jüngerer Bruder Johann.
»Wir warten seit einer halben Stunde mit dem Essen auf Euch! Der arme Junge ist halb verhungert nach der langen Reise von Innsbruck hierher!«
Ich verkneife mir eine bissige Antwort, etwa, daß der »arme Junge« einen so arg verhungerten Eindruck nicht mache und daß die paar Meilen von Innsbruck nach Schwaz ja wohl kaum eine Weltreise seien, zumal, wenn man sie recht gemütlich in seiner Kutsche sitzend hinter sich bringe. Ich könnte auch anmerken, daß das heftig prasselnde Feuer im Kamin dieser Jahreszeit nicht mehr ganz angemessen sei, daß es kein frostklirrender Januartag, sondern Ende April sei, daß die Sonne scheine und die Blumen und Bäume blühten.
Doch was soll’s? Johann, Frau Reginas Erstgeborener, ist nun einmal ihr unumstrittener Liebling, da hilft es wenig, wenn man vernünftig zu erklären versucht, daß man im Berg und in den Schmelzhütten nicht
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