Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
beim Glockenschlag alles liegen und fallen lassen kann und daß wir heute ohnehin pünktlicher als an vielen anderen Tagen seien.
Ich murmle eine belanglose Entschuldigung und ziehe mich ebenfalls zunächst zurück, um mich zu waschen und umzukleiden.
Später sitzen wir am Tisch: Unser Bruder Johann nach wie vor auf dem Ehrenplatz. Ihm gegenüber Frau Regina, eine trotz ihrer vierzig Jahre und der schwarzen Witwentracht noch immer auffallend schöne Frau mit feuerroten Haaren, eisgrauen Augen und einem sinnlichen Mund. Ich konnte meinen Vater schon verstehen, daß er nach dem Tod unserer Mutter sich in diese Frau verliebte, ihr jeden Wunsch von den Augen ablas: Wünsche, die sich meist um das Wohlergehen ihres Johann drehten.
An den Längsseiten der Tafel sitzen Ulrich, ihm gegenüber meine hochschwangere Frau Maria und ich. Neben Ulrich unser jüngster Bruder, Frau Reginas Zweitgeborener, Kaspar, ein vierzehnjähriger, schmalbrüstiger Junge, der nebenan bei den Franziskanern auf die Lateinschule geht, während der Platz zwischen ihnen leer steht, seit unsere Schwester Margarethe, unsere Älteste, vor zwei Jahren den Herrn Albert Scheuchensruel zu Weiching, Salzmeister zu Reichenhall, geheiratet hatte.
Unter den funkelnden Blicken Frau Reginas und unserer alten Beschließerin Kreszenz schleppen zwei Mägde ungezählte dampfende Schüsseln und Platten und Terrinen aus der Küche heran, schenken Wein in die hohen, kostbaren Kristallgläser, die unser Vater einst von einer Reise aus Venedig mitgebracht hatte und die sonst nur an den höchsten Feiertagen auf dem Tisch erscheinen.
Ulrich hatte bis jetzt geschwiegen. Doch als er den ersten Schluck Wein probiert, zieht er erstaunt die Augenbrauen hoch:
»Ist das nicht der teure Malaga, den Vater letztes Jahr bei dem spanischen Händler gekauft hat?«
»Du gönnst deinem Bruder wohl überhaupt nichts!« fährt ihn Frau Regina an.
»Daß ich meinem Bruder alles zu gönnen habe, habe ich breits vor Jahren begriffen«, brummt Ulrich in seinen Bart. »Ich gönne ihm sogar dieses Höllenfeuer, das da im Kamin lodert. Es wird ihn so sehr zum Schwitzen bringen, daß er sich beim ersten frischen Luftzug die ›Bergsucht‹ holen und daran eingehen wird.«
»Ulrich! Ich verbitte mir solche Reden an meinem Tisch!«
»An deinem Drittel kannst du verbieten oder erlauben, was dir gefällt. An den zwei Dritteln des Tisches, die Adam und mir gehören, red’ ich gerade so, wie es mir gefällt!«
Frau Reginas Hände haben sich zusammengekrampft. Es sind elegante, schlanke, trotzdem gierige Hände.
»Dann nimm gefälligst dein Drittel des Tisches und verlasse meine Stube!«
»Wieso deine Stube? Zu einem Drittel auch meine Stube, und genau in diesem Drittel sitze ich«, hält Ulrich gereizt dagegen und spießt sich eine weitere Portion Spanferkel auf den Teller.
»Du weißt ganz genau, was ich meine, Ulrich!« zischt unsere Stiefmutter.
»So? Weiß ich das?«
»Ich werde dir folgendes sagen, Ulrich …«
»Bitte, Mutter!« mischt sich jetzt Johann ein. »Wir sollten uns dieses köstliche Mahl nicht verderben lassen. Wir wissen doch beide, wie Ulrich zu mir steht und daß er mir die Butter auf dem Brot nicht gönnt.«
»Solange es deine eigene Butter ist, Johann, gönne ich sie dir von Herzen und die Wurst und den Schinken dazu. Ich habe nur etwas dagegen, wenn du dir auch noch die Butter von Adam und mir dazuschmierst.«
»Ulrich, so wahr mir Gott helfe, ich habe nie irgend etwas beansprucht, was dir oder Adam gehört!« empört sich Johann.
»Natürlich nicht«, winkt Ulrich ab, »nicht einmal dazu bist du ja Manns genug. Du nimmst nur und nimmst und nimmst – und fragst lieber nicht danach, woher es kommt.«
»Ulrich! Du vergißt dich!« Frau Reginas Gesicht ist fast so rot angelaufen wie ihre Haare.
»Ich habe weder mich vergessen, noch habe ich sonst etwas vergessen! O nein, ich habe nicht vergessen, daß der junge Herr auf die Universität zu Ingolstadt gehen mußte, um Herr Doktor werden zu können, während Adam und ich im Berg und in den Schmelzhütten schufteten. Ich habe nicht vergessen, daß der Herr Doktor dann nochmals studieren mußte – in Padua!«
»Johann hat nur die Ausbildung erhalten, die seinem Stand angemessen ist!« fährt unsere Stiefmutter dazwischen.
»Und Adam und mir also wohl nicht angemessen schien!« grollt Ulrich. »Aber wir sind ebenso Herren zu Wagrain wie dein Liebling. Für uns war es durchaus angemessen, in den Tiefen der Berge
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