Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
auf.
»Ich verstehe«, meint Reisländer mit dem Anflug eines Lächelns. »Ihr habt Euren Kopf mit den Quadranten kreisen lassen – und das im Wind. Sagt mir: Welcher Wind ist der Beste für uns?«
»Ja, hm, hm …«, ich setze mit dem Ton ganz unten an und sage in vollendeter Demut: »Der, der uns erleichtert!«
Schallendes Lachen erfüllt die Krame.
Reisländer lächelt maliziös in meine Richtung:
»Ich denke, Ihr wollt damit andeuten, daß ich im Stollen auf jeden Fall vor Euch gehen sollte. Aber das sind doch alles Zwischenwinde – ich dachte mehr an die Hauptwinde!
Aus meiner Sicht betrachtet, Schiener, streicht das Erz an der Stelle, die wir gleich aufsuchen werden, von Burns nach Caurus, wenn nicht sogar von Auster nach Septentrio.«
»Nach dem, was durch Vermessungen in letzter Zeit deutlicher herausgekommen ist, könnte es ein fallender, mächtiger Gang von zwei bis drei Lachter sein, der von Ornithias nach Etesiae streicht.«
Agatha beobachtet uns mit ihren wachen Augen, versucht an unseren Gesichtern abzulesen, wer nun als erster eingestehen muß, daß die Himmelsrichtungen gewissermaßen verlorengegangen waren.
Wir Schiener lernen die Himmelsrichtungen auf dem Bergkompaß weiter zu unterteilen, so daß jeder Quadrant von Nord nach Ost, oder von Ost nach Süd weitere sechs Gradeinteilungen erhält. Diese teilen die vier Quadranten, also den Kreis in 24 gleiche Teile – wie Agatha ihren sonntäglichen Kuchen.
Wie die Bergleute, so verfahren auch die Seeleute mit der Zahl der Winde. Die Römer gingen einst denselben Weg, wobei sie den Winden teils lateinische, teils griechische Namen gaben.
Wir Schiener, ich gebe es gerne zu, machen uns immer einen Spaß daraus, den Verlauf eines Ganges vor den Knappen im Berg nach Belieben durch die Namen der Winde zu bezeichnen, um Eindruck zu machen.
Nun, Reisländer versteht sie genau – wäre es anders gewesen, ich würde beginnen an der Ordnung des Kosmos zu zweifeln.
»Sind wir so weit, Dreyling? Dann können wir gehen.«
»Glück und Heil, Bergmeister.«
»Glück und Heil, Schiener.«
Während die frisch gefüllten Lampen mit einem fetten, übelriechenden Rauch brennen, verläßt Reisländer die Krame, und ich folge ihm ins Freie.
Ich sehe hinauf zur sechzig Klafter lotrecht aufsteigenden Felswand des Eibelschroffens. Die blendende Nachmittagssonne liegt auf der Wand und dem breiten Haldengürtel unterhalb des Steilabbruchs.
Dort oben war die Keimzelle des mittelalterlichen Bergbaus, hatte mir mein Vater noch erzählt. Nach den mächtigen Haldenflächen zu urteilen, muß dort oben die Vererzungsdichte groß gewesen, muß reich abgebaut worden sein. Die Zeit ist lange vorbei, wo droben am Geschröffe das Erz am Tage abgebaut werden konnte. Je höher die Stollen, desto älter sind sie. 1491 war dann die Talsohle erreicht. Der Herzog-Sigmund-Erbstollen vor uns wurde damals, vor 83 Jahren, feierlich angeschlagen.
Wie ein ungestümer Bergbach schwappt uns das Wasser aus dem Stollenmund entgegen, schießt weiter den Pochwerken zu.
»Ich werde wohl nie begreifen, wo all das Wasser herkommt.« Reisländer, der vor mir den Stolleneingang erreicht hat, wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. »Der Berg weint unaufhörlich.«
Der Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und den Mächten der Finsternis ist nach wenigen Klaftern zugunsten der Finsternis entschieden. Mit den Lampen, den flackernden Flammen in den Händen, kommt es mir vor, als ob wir mit jedem Schritt die Vergangenheit hinter uns ließen und gleichzeitig einen Schritt in die Zukunft täten – die von unseren winzigen Lichtern kaum erhellt wird.
Wir gehen hintereinander zwischen den gut schulterbreiten Felsenwänden. Der Sigmund-Stollen ist damit großzügig gebaut. Der Magdalenen-Stollen, etwa 18 Lachter über uns, ist noch wesentlich enger aufgeschlagen.
Bis zum harten Gestein des Dolomits liegen rund 210 Klafter Strecke vor uns.
Unter den Holzschwellen, auf denen die Bohlen für die Hunte befestigt sind, schießt zischend und rauschend das Wasser dahin, schwappt uns immer wieder über die Füße.
»Bergmeister, das Gurgeln unter uns, ist das in diesem Ausmaß noch normal? Könnt Ihr Euch noch erinnern, wie stark die Bergwässer vor 20 Jahren hier Ende April waren?«
Statt einer Antwort fragt Erasmus Reisländer zurück:
»Wieviel schätzt Ihr? Wie hoch fließt das Wasser?«
»Gut eineinhalb Fuß über der Stollensohle – und das jetzt schon. Dabei ist der Höhepunkt der
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