Der Meister des Siebten Siegels: Roman (German Edition)
Gebimmel kam von der Sakristei. Es hätte auch das Totenglöckchen sein können. Alles sah wie erstarrt zur Altarebene hin, als ob gleich ein Ritter zu Pferde über die Platten jagen und dem Angeklagten mit seiner Lanze den Todesstoß versetzen würde. Das Meer der Stimmen verebbte rasch, nur das Husten und Scharren in den Bänken wollte nicht enden. Dann waren endlich auch diese Geräusche verstummt.
Die Tür der Sakristei drehte sich quietschend in ihren Angeln. Schritte hallten über die Platten. Der Ritter war abgesessen. Er kam zu Fuß. Die Lanze war seine Pergamentrolle, die er in der linken Hand trug. Das Volk erhob sich. Die Gänsbäuche und Halskrausen verweigerten wiederum dem Amt die Ehre. Sie blieben hocken.
Erasmus Reisländer trat an den Richtertisch, nahm unsere Empore für einige Sekunden in Augenschein, blickte noch etwas höher ins Kreuzrippengewölbe, als verfolge er Tauben, die dort oben verschlungene Schleifen beschrieben. Eine davon nahm wohl eine Kurslinie direkt auf den Richtertisch, denn plötzlich griff der Bergrichter nach der Keilhaue und schlug sie abermals dreimal knallend auf die Eichenplatte.
Das Volk nahm wieder Platz.
Reisländer entfernte ein Band und rollte das Pergament auf, um den fünften und letzten Anklagepunkt nun selbst zu verlesen:
»Adam Dreyling zu Wagrain! Ihr seid weiterhin angeklagt, Bergbaugeheimnisse und unsere Wasserkunst an das Königreich Polen verraten zu haben.«
»Die Pest über den Dummkopf!« kommentierte der Geheime Rat Dr. Justinian Moser neben mir die Verlesung.
»Angeklagter! Was habt Ihr in Krakau verraten?« forderte Reisländer das Wort von Adam.
Dieser stand mit gelösten Fesseln, den Rücken uns zukehrend, auf der Totenkopfplatte. Ich sah, wie er seine rechte Hand anwinkelte. Gleich darauf drehte er sich den Chören zu, so daß wir erkennen konnten, daß seine Rechte im groben Leinenhemd in der Höhe des Gürtels verweilte.
»Bergknappen, Volk von Tirol!« hob er feierlich an. »Jeder von uns weiß, daß wir Knappen wie auch Gewerken oder Bergmeister meist streng auf Geheimhaltung unseres Wissens achten. Aber manch einer, der es besser wußte, verschwieg damit gleichzeitig, daß unser Wissen schon damals längst nicht mehr als geheim gelten konnte. Ihr werdet Euch nun erneut fragen: Stimmt denn das? War es wirklich so? Wo sind die Beweise für diese Behauptungen?
So vernehmt meine Worte: Die Kunst des Bergbaues und der Erzverhüttung wird in Tirol, Kärnten, Steiermark, den Vorlanden oder in Sachsen mehr geübt als an irgendeiner anderen Stelle der Christenheit. Nirgendwo wurde mehr Wissen davon angesammelt und niedergeschrieben als in den habsburgischen Königreichen. Tatsache ist nun, daß wir in unserer Zeit diese Schriften in ganz Europa wiederfinden. Sie haben überall großen Eindruck hinterlassen. Sogar in England fand ich ein Büchlein mit dem Titel E IN NÜTZLICH B ERGBUCHLEYN , das der Freiberger Stadtphysikus und Bürgermeister Ulrich Rühlein von Calw bereits vor 90 Jahren niedergeschrieben hat. Er hat es zu einer Zeit niedergeschrieben, da waren wir noch nicht einmal geboren! Dazu kam von ihm 1524 noch das P ROBIERBÜCHLEIN hinzu, das ebenfalls in England zu bekommen war. In Venedig, entdeckte ich das Buch von Vannoccio Biringuccio, dessen D E L A P IROTECHNIA von 1540 jedem Interessierten zugänglich war. Und in Polen konnte ein jeder, der des Lesens mächtig war, sich an den Büchern des Chemnitzer Stadtarztes und Bürgermeister Georgii Agricolae erfreuen. Sein Werk B ERMANNUS SIVE D E R E M ETALLICA D IALOGUS wird zwar in Polen am meisten gelesen, doch sein wichtigstes Buch, das alle Geheimnisse des Berg- und Hüttenwesens beinhaltet, trage ich hier und jetzt unter meinem Herzen.«
Adams rechte Hand verließ den Ausschnitt seines Leinenhemdes, streckte den Arm nach oben und zeigte triumphal, wie einen Lorbeerkranz, das Buch Agricolas. Gleichzeitig drehte er sich auf der Totenkopfplatte, den Schädelknochen gleichsam unter sich zermalmend, und rief mehrmals voller Genugtuung in die Chöre hinein:
»D E R E M ETALLICA L IBRI XII wird in ganz Europa gelesen!«
Meine Augen fixierten Katharina Endorfer, die vor Anspannung über dem Stuhl zu schweben schien.
»Verfluchtes Weib! Auf den Scheiterhaufen mit ihr!« wollte ich am liebsten losbrüllen. Das war es also: Von ihr bekam Adam das Buch in der Totenkapelle zugesteckt. Doch was hatten sie getauscht? Locke gegen Buch? Nichts paßte zusammen … Egal, mir war im gleichen
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