Der Meister und Margarita
Soldaten haben es mir genommen, als sie mich herbrachten", antwortete Levi und setzte finster hinzu: "Geben Sie es mir zurück, ich muß es seinem Besitzer zustellen, denn ich habe es gestohlen."
"Warum?"
"Um die Stricke zu zerschneiden", antwortete Levi. "Marcus!" rief der Prokurator, und der Zenturio trat unter die Säulen. "Geben Sie mir sein Messer."
Der Zenturio zog aus einem der beiden Futterale an seinem Gürtel ein schmutziges Brotmesser, reichte es dem Prokurator und entfernte sich wieder. "Wo hast du das Messer genommen?"
"In einem Brotladen am Hebron-Tor; wenn man in die Stadt kommt, gleich links."
Pilatus betrachtete die breite Klinge und prüfte mit dem Finger die Schärfe, dann sagte er:
"Beunruhige dich nicht wegen des Messers, man wird es dem Laden zurückgeben. Ich brauche jetzt etwas anderes — zeige mir die Handschrift, die du bei dir führst und auf der die Worte Jeschuas niedergeschrieben sind."
Levi warf Pilatus Haßblicke zu und lächelte so grimmig, daß es sein Gesicht vollends verzerrte.
"Sie wollen mir das Letzte nehmen, was ich besitze?" fragte er. "Ich habe nicht gesagt, du sollst sie mir geben", antwortete Pilatus, "ich habe gesagt — zeige sie mir."
Levi griff in seine Kleidung und brachte eine Pergamentrolle zum Vorschein. Pilatus nahm sie entgegen, entrollte sie, breitete sie zwischen den Lichtern aus und vertiefte sich stirnrunzelnd in die schwer lesbaren, mit Tinte geschriebenen Schriftzeichen. Die krakligen Zeilen waren kaum zu entziffern, Pilatus verkniff die Augen und beugte sich tief übers Pergament, sein Finger glitt die Zeilen entlang. Er erkannte, daß das Geschriebene eine unzusammenhängende Kette von Aussprüchen, Daten, Wirtschaftsnotizen und poetischen Bruchstücken war. Er las: "... Tod gibt es nicht . . . gestern haben wir süße Frühlingsfeigen gegessen ..."
Pilatus schnitt Runzelgrimassen vor Anspannung, er las: ". .. wir werden den klaren Fluß mit dem Wasser des Lebens sehen . .. die Menschheit wird durch einen hellen Kristall auf die Sonne blicken .. ."
Da zuckte Pilatus zusammen. In den letzten Zeilen des Pergaments entzifferte er die Wörter: "... kein größeres Laster ... Feigheit..."
Pilatus rollte das Pergament zusammen und reichte es mit jäher Bewegung Levi zurück.
"Nimm", sagte er und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: "Du bist, wie ich sehe, ein Mann des Buches, und nicht frommt es dir, dem Einsamen, obdachlos in Bettlerkleidung zu stromern. Ich habe in Cäsarea eine große Bibliothek, ich bin sehr reich und möchte dich in meine Dienste nehmen. Du wirst die Papyri ordnen und pflegen, und du wirst satt und gekleidet sein." Levi stand auf. "Nein, ich will nicht."
"Warum nicht?" fragte der Prokurator und lief dunkel an. "Bin ich dir unangenehm? Fürchtest du mich?" Wieder entstellte das böse Lächeln Levis Antlitz. "Nein, denn du wirst mich fürchten. Es wird dir nicht leichtfallen, mir ins Gesicht zu sehen, nachdem du ihn getötet hast." "Schweig", antwortete Pilatus, "nimm Geld." Levi schüttelte verneinend den Kopf, und der Prokurator fuhr fort:
"Ich weiß, du hältst dich für einen Schüler Jeschuas, doch ich sage dir, du hast nichts von dem begriffen, was er dich lehrte. Hättest du es nämlich begriffen, so würdest du bestimmt etwas von mir annehmen. Wisse, er hat vor seinem Tode gesagt, er hege gegen niemanden Grimm." Pilatus hob bedeutsam den Finger, in seinem Gesicht zuckte es. "Er selbst hätte gewiß etwas angenommen. Du bist hartherzig, er war es nicht. Wo willst du hingehen?"
Levi trat plötzlich zum Tisch, stützte sich mit beiden Händen auf, sah den Prokuratör mit brennenden Augen an und flüsterte ihm zu:
"Wisse, Hegemon, daß ich in Jerschalaim einen Menschen töten werde. Ich möchte es dir sagen, damit du weißt, es wird noch Blut fließen."
"Das weiß ich auch, daß noch Blut fließen wird", antwortete Pilatus, "deine Worte wundern mich nicht. Du willst natürlich mich umbringen?" "Dich umzubringen wird mir nicht gelingen", antwortete Levi und entblößte lächelnd die Zähne, "ich bin nicht so dumm, daß ich daraufrechne. Aber ich werde Judas aus Kirjath töten. Dieser Aufgabe ist der Rest meines Lebens gewidmet." Ein genüßlicher Ausdruck trat in die Augen des Prokurators, mit dem Finger winkte er Levi Matthäus näher heran und sagte: "Das wird dir nicht gelingen, und du brauchst dich darum auch nicht mehr zu sorgen. Judas ist in dieser Nacht erstochen worden."
Levi sprang vom Tisch zurück, warf wilde
Weitere Kostenlose Bücher