Der Meister und Margarita
auf keinen Fall daran", sagte Afraniu's halblaut, "daß Judas im Weichbild der Stadt irgendwelchen verdächtigen Leuten in die Hände fiel. Auf der Straße ist es unmöglich, jemanden heimlich zu erstechen. Man hätte ihn in einen Keller locken müssen. Der Geheimdienst hat ihn schon in der Unterstadt gesucht und hätte ihn zweifellos gefunden. Aber er ist nicht in der Stadt, dafür bürge ich Ihnen. Hätte man ihn wiederum weit von der Stadt entfernt getötet, so wäre das Geldpäckchen nicht so schnell ins Fenster geworfen worden. Er wurde in der Nähe der Stadt getötet. Man hat ihn hinauszu-locken gewußt."
"Mir unbegreiflich, wie man das tun konnte."
,Ja, Prokurator, das ist die schwierigste Frage in dem ganzen Fall, und ich weiß nicht einmal, ob es mir gelingen wird, sie zu ' klären."
"In der Tat rätselhaft! Am Vorabend des Festes geht ein Gläubiger, nachdem er das Pessachmahl verlassen hat, aus unbekannten Gründen zur Stadt hinaus und stirbt dort. Wer konnte ihn hinauslocken und wie? Ob es eine Frau getan hat?" fragte der Prokurator, einer plötzlichen Eingebung folgend. "Auf" keinen Fall, Prokurator", antwortete Afranius ruhig und gewichtig. "Diese Möglichkeit scheidet völlig aus. Man muß logisch vorgehen. Wer war an Judas' Tod interessiert? Irgendwelche vagabundierenden Phantasten, ein Kreis von Menschen, zu dem vor allem keine Frauen gehörten. Um zu heiraten, Prokurator, braucht es Geld, um Kinder in die Welt zu setzen ebenfalls. Um aber einen Menschen mit Hilfe einer Frau zu ermorden, braucht es sehr viel Geld, und das hat kein Vagabund. Eine Frau war nicht dabei, Prokurator. Mehr noch, ich sage Ihnen, eine solche Vermutung kann nur von der Spur ablenken, die Untersuchung behindern und mich verwirren." "Ich sehe, Sie haben völlig recht, Afranius", sagte Pilatus, "ich habe mir auch nur erlaubt, eine Mutmaßung auszusprechen." "Sie ist leider irrig, Prokurator."
"Aber was ist es dann?" rief der Prokurator und starrte Afranius wißbegierig ins Gesicht. "Ich nehme an, es handelt sich um das Geld." "Ein großartiger Gedanke! Aber wer konnte ihm nachts außerhalb der Stadt Geld anbieten und wofür?"
"O nein, Prokurator, nicht so. Ich habe nur eine Vermutung, und wenn sie nicht zutrifft, werde ich kaum andere Erklärungen finden." Afranius beugte sich näher zum Prokurator und sprach flüsternd weiter: ,Judas wollte sein Geld an einer einsamen Stelle verstecken, die nur er kannte."
"Eine sehr scharfsinnige Erklärung. So wird es gewesen sein. Jetzt verstehe ich Sie: Nicht Menschen haben ihn hinausgelockt, sondern seine eigenen Ziele. Ja, ja, so ist es gewesen." "Gewiß, Judas war mißtrauisch, er hat sein Geld vor den Leuten versteckt."
,Ja, Sie sagten, in Gethsemane . .. Warum Sie ihn gerade dort suchen wollen, das begreife ich offen gestanden nicht." "Oh, Prokurator, das ist das einfachste. Niemand würde Geld an einer Straße, an einem offenen und leeren Platz verstecken. Judas war weder auf der Straße flach Hebron noch auf der Straße nach Bethanien. Er mußte eine geschützte verborgene Stelle mit Bäumen aufsuchen. So einfach ist das. Und andere Stellen mit Bäumen außer Gethsemane gibt es bei Jerschalaim nicht. Er konnte nicht weit gehen."
"Sie haben mich überzeugt. Also, was ist jetzt zu tun?" "Ich beginne sofort mit der Suche nach den Mördern, die Judas außerhalb der Stadt aufgespürt haben, und ich selber werde inzwischen, wie ich Ihnen schon sagte, ein Verfahren gegen mich beantragen." "Weswegen?"
"Meine Leute haben ihn abends auf dem Basar aus den Augen verloren, nachdem er den Kaiphas-Palast verlassen hatte. Wie das geschehen konnte, ist mir unbegreiflich. Das ist mir noch passiert. Er stand gleich nach unserem Gespräch unter Beobachtung. Aber im Bezirk des Basars hat er einen Haken geschlagen und ist in so merkwürdigen Kurven gelaufen, daß er spurlos verschwand."
"So. Ich erkläre Ihnen, daß ich es nicht für notwendig halte, Sie vor Gericht zu stellen. Sie haben getan, was Sie konnten, und niemand auf der Welt" — hier lächelte der Prokurator — "hätte mehr tun können als Sie! Die Spitzel, die Judas verloren haben, sollten disziplinarisch bestraft werden, aber ich wünsche keine besondere Strenge. Letzten Endes haben wir alles getan, um uns dieses Übeltäters anzunehmen. Ja! Ich vergaß zu fragen" — der Prokurator rieb sich die Stirn —, "wie hat man es fertiggebracht, Kaiphas das Geld ins Haus zu werfen?"
"Das, Prokurator, ist nicht sonderlich schwer. Die
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