Der Meister und Margarita
"Ich glaube Ihnen! Diese Augen lügen nicht! Wie oft habe ich euch schon gesagt, euer Hauptfehler besteht darin, daß ihr die Bedeutung der menschlichen Augen unterschätzt. Begreift doch, Zungen können die Wahrheit verbergen, aber Augen nie! Man stellt euch eine plötzliche Frage, ihr zuckt nicht einmal, habt euch sofort in der Gewalt und wißt, was ihr sagen müßt, um die Wahrheit zu verbergen, ihr sprecht höchst überzeugend, und keine Falte eures Gesichts bewegt sich, doch leider springt die von der Frage aufgestörte Wahrheit für einen Moment vom Grunde der Seele in die Augen, und schon ist alles aus! Die Wahrheit wird bemerkt, und ihr seid ertappt!" Nachdem der Schauspieler diese überzeugende Rede mit großem Feuer vorgetragen hatte, fragte er Kanawkin liebevoll: "Wo ist das Geld versteckt?"
"Bei meiner Tante Porochownikowa in der Pretschistenkä." "Ah! Das ist . . . warten Sie ... das ist bei Klawdija Iljinitschna, stimmt's?"
"Ja."
"Ach, ja, ja, ja, ja! Die kleine Villa? Gegenüber ist noch ein Zaun? Gewiß doch, ich weiß, ich weiß! Und wo ist das Geld dort versteckt?"
"Im Keller, in einer Einem-Dose ..." Der Schauspieler schlug die Hände zusammen. "Hat man so was schon gesehen?" rief er betrübt. "Da wird es doch feucht und schimmlig! Kann man solchen Menschen Devisen anvertrauen? Die reinsten Kinder! So was ..." Kanawkin wußte selber, daß er sich strafbar gemacht hatte, und senkte den Zottelkopf.
"Geld", fuhr der Schauspieler fort, "muß in der Staatsbank aufbewahrt werden, in eigens dafür bestimmten trockenen und gut bewachten Räumen, nicht aber im Tantenkeller, wo es ja die Ratten verderben können! Schämen Sie sich, Kanawkin, Sie sind doch ein erwachsener Mensch!"
Kanawkin wußte nicht mehr aus noch ein und polkte nur noch mit dem Finger am Jackensaum.
"Nun gut", sagte der Schauspieler einlenkend, "Schwamm drüber ..."
Plötzlich fügte er überraschend hinzu: ,Ja, übrigens . .. damit wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen ... Die Tante selber hat doch auch noch was?"
Kanawkin, der diese Wendung nicht erwartet hatte, zuckte zusammen, im Theater trat Schweigen ein.
"Ach, dieser Kanawkin", sagte der Conferencier freundlich-vor-wurfsvoll, "und ich hab ihn noch gelobt! Jetzt stellt er sich auf einmal bockig. Das ist doch albern, Kanawkin! Eben hab ich noch von den Augen gesprochen. Ich seh doch, daß die Tante auch was hat. Warum spannen Sie uns sinnlos auf die Folter?" ,Ja, sie hat!" schrie Kanawkin kurz entschlossen. "Bravo!" rief der Conferencier. "Bravo!" brüllte der Saal.
Als es still geworden war, beglückwünschte der Conferencier Kanawkin, drückte ihm die Hand, bot ihm an, ein Wagen würde ihn nach Hause bringen, und befahl, im selben Wagen solle jemand aus den Kulissen zur Tante fahren und sie bitten, das Programm im Frauentheater zu besuchen.
,Ja, was ich noch fragen wollte, hat Ihnen die Tante nicht gesagt, wo ihre Devisen versteckt sind?" erkundigte sich der Conferencier, dabei bot er Kanawkin liebenswürdig eine Zigarette an und reichte ihm ein brennendes Streichholz. Während Kanawkin anrauchte, zeigt er ein wehmütiges Lächeln. "Ich glaube Ihnen", antwortete der Schauspieler seufzend, "diese alte Geizschnepfe würde das nicht mal dem Teufel sagen, geschweige denn ihrem Neffen! Na schön, versuchen wir, menschliche Gefühle in ihr zu wecken. Vielleicht sind noch nicht alle Fasern ihrer Wuchererseele verfault. Alles Gute, Kanawkin!"
Der glückliche Kanawkin entfernte sich. Der Schauspieler fragte, ob jemand Devisen abgeben wolle, doch die Antwort war Schweigen.
"Seltsam, diese Leute!" sagte der Schauspieler achselzuckend, und der Vorhang verbarg ihn.
Die Lampen erloschen, einige Zeit war es finster, und man hörte von weitem einen nervösen Tenor singen: "Es liegt viel Gold dort im Revier, und all das Gold gehört nur mir ..."
Dann drang von irgendwoher zweimal Applaus. "Im Frauentheater liefert irgendein Dämchen Devisen ab", sagte plötzlich Nikanor Iwanowitschs rothaariger, bärtiger Nachbar und fügte seufzend hinzu: "Ach, wenn bloß meinen Gänsen nichts passiert! Ich halte nämlich Kampfgänse in Liano-sowo, guter Freund, und ich hab Angst, sie krepieren ohne mich. So eine Kampfgans ist empfindlich, braucht viel Pflege ... Ach, wenn bloß den Gänsen nichts passiert! Mit Puschkin können die mich nicht verblüffen." Wieder seufzte er tief. Da brach helles Licht in den Saal, und Nikanor Iwanowitsch träumte, durch alle Türen strömten Köche mit
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