Der Meister und Margarita
gelangt, wo er Ruhe hatte und niemand ihn störte.
Jetzt saß er auf dem Stein, der schwarzbärtige Mann mit den von Sonne und Schlaflosigkeit eiternden Augen, und ergab sich der Schwermut. Bald seufzte er, öffnete den auf seinen Wanderungen verschlissenen, ehemals blauen, jetzt schmutziggrauen Tallit und entblößte die von der Lanze geprellte Brust, über die schmutziger Schweiß lief, bald hob er in unerträglicher Qual die Augen zum Himmel und beobachtete die drei Geier, die seit langem hoch droben weite Kreise zogen im Vorgefühl des baldigen Festmahls, bald richtete er den hoffnungslosen Blick zur gelben Erde und starrte auf den halbzerfallenen Hundeschädel und die drumherum huschenden Eidechsen.
Seine Qual war so groß, daß er zeitweilig Selbstgespräche führte.
"Oh, ein Tor bin ich", murmelte er, wiegte sich gepeinigt auf dem Stein und zerkratzte mit den Nägeln die bräunliche Brust. "Ein Tor, ein hirnloses Weib, ein Feigling! Ein Kadaver bin ich, kein Mensch!"
Er verstummte, nickte, dann trank er aus der Holzflasche warmes Wasser, belebte sich wieder, griff bald nach dem Messer, das er unterm Tallit auf der Brust barg, bald nach dem Pergament, das zusamt einem Stöckchen und einem Tuschefläschchen vor ihm auf dem Stein lag. Auf diesem Pergament stand bereits die Schrift: "Die Minuten eilen, ich, Levi Matthäus, bin auf dem Schädelberg, und der Tod ist noch immer nicht eingetreten!" Weiter:
"Die Sonne senkt sich, doch der Tod tritt nicht ein."
Jetzt schrieb Levi Matthäus mit dem zugespitzten Stöckchen mutlos:
"Gott! Wofür zürnst du ihm? Schicke ihm den Tod." Dies geschrieben, schluchzte er trocken auf und kratzte sich abermals die Brust blutig.
Der Grund für Levis Verzweiflung waren das furchtbare Mißgeschick, das Jeschua und ihn ereilt, und der verhängnisvolle Fehler, den er, Levi, seiner Meinung nach begangen hatte. Vorgestern waren er und Jeschua in Bethanien bei Jerschalaim Gäste eines Gemüsegärtners gewesen, dem Jeschuas Predigten wohl gefielen. Den ganzen Vormittag waren sie dem Gärtner bei der Arbeit zur Hand gegangen, und sie wollten gegen Abend, wenn es schon kühl war, nach Jerschalaim zurückkehren. Aber Jeschua hatte es aus irgendwelchen Gründen eilig, sagte, er habe in der Stadt unaufschiebbare Dinge zu erledigen, und wanderte schon gegen Mittag alleine los. Das war Levi Matthäus' erster Fehler gewesen. Warum, warum nur hatte er ihn alleine ziehen lassen! Am Abend konnte Matthäus nicht nach Jerschalaim gehen. Ganz plötzlich warf ihn eine schlimme Kränke nieder. Er hatte Schüttelfrost, sein Körper glühte, er klapperte mit den Zähnen und verlangte dauernd zu trinken. Er konnte nirgendwohin gehen. Im Schuppen des Gemüsegärtners lag er auf einer Pferdedecke bis Freitag früh, dann verließ ihn die Krankheit so plötzlich, wie sie gekommen war. Wiewohl noch schwach und mit zitternden Beinen, verabschiedete er sich, vom Vorgefühl eines Unglücks gepeinigt, von dem Gastfreund und begab sich nach Jerschalaim. Dort erfuhr er, daß sein Vorgefühl ihn nicht getrogen hatte und das Unglück geschehen war. Levi war in der Menge und hörte den Prokurator das Urteil verkünden. Als die Verurteilten zum Schädelberg gebracht wurden, lief Levi Matthäus inmitten der Neugierigen neben der Sperrkette her und bemühte sich, Jeschua unbemerkt Zeichen zu geben, daß er, Levi, hier sei, bei ihm, daß er ihn auf seinem letzten Wege nicht im Stich ließ und betete, der Tod möge Jeschua möglichst schnell ereilen. Allein Jeschua schaute in die Ferne, in die Richtung, wohin er gebracht wurde, und sah Levi nicht. Als die Prozession eine halbe Werst zurückgelegt hatte, kam dem Matthäus, den die Menge unmittelbar an der Sperrkette hin und her rempelte, ein einfacher und glücklicher Gedanke, und sofort bedachte er sich, hitzig, wie er war, mit Flüchen, daß er nicht früher darauf verfallen war. Die Soldaten gingen nicht in geschlossener Kette, es gab Zwischenräume. Wenn er es geschickt anstellte und genau berechnete, konnte er gebückt zwischen zwei Legionären hindurchspringen, das Fuhrwerk erreichen und sich hinaufschwingen. Dann war Jeschua vor den Qualen gerettet.
Ein Augenblick würde genügen, um Jeschua ein Messer in den Rücken zu stoßen und ihm zuzurufen: ,Jeschua! Ich rette dich und gehe mit dir! Ich, Matthäus, dein treuer und einziger Schüler!"
Und wenn ihm Gott dann noch einen freien Augenblick gewährte, konnte er noch sich selber das Messer in den Leib stoßen, um
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