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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Opfern, die wach waren und jeden Stich, jeden Schnitt seiner Klinge bei vollem Bewusstsein miterlebten. Sie sah das Nachthemd vor sich auf dem Stuhl liegen, und das Bild von Hoyts absolut gewöhnlichem Gesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf – ein Gesicht, das sie immer noch in ihren Träumen verfolgte.
    Aber das hier ist nicht sein Werk, Warren Hoyt ist hinter Gittern, an einem sicheren Ort, von dem er nicht entfliehen kann. Das weiß ich, weil ich das Schwein selbst dorthin gebracht habe.
    »Der Boston Globe hat die Geschichte in allen sensationellen Details abgedruckt«, sagte Korsak. »Sogar die New York Times hat über Ihren Burschen berichtet. Und jetzt ahmt dieser Täter ihn nach.«
    »Nein. Ihr Killer tut Dinge, die Hoyt niemals getan hat. Er schleppt dieses Paar aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Er lehnt den Mann in sitzender Haltung an die Wand und schneidet ihm dann die Kehle durch. Es ist eher so etwas wie eine Hinrichtung. Oder ein Teil eines Rituals. Und dann ist da die Frau. Er tötet ihren Mann, aber was macht er mit ihr?« Sie brach ab, als ihr plötzlich der Porzellansplitter vom Wohnzimmerboden wieder einfiel. Die zerbrochene Teetasse. Ihre Bedeutung durchfuhr sie urplötzlich wie ein eisiger Windstoß.
    Wortlos verließ sie das Schlafzimmer und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort sah sie sich zunächst die Wand an, an der Dr. Yeagers Leiche gelehnt hatte. Ihr Blick wanderte zum Boden, und sie begann in immer weiteren Kreisen umherzugehen, während sie die Blutspritzer auf dem Holz aufmerksam betrachtete.
    »Rizzoli?«, sagte Korsak.
    Sie wandte sich zu der Fensterfront um und kniff die Augen zusammen, als das Sonnenlicht ihr Gesicht traf. »Es ist zu hell hier. Und die Scheiben sind zu groß. Das können wir nicht alles abdecken. Wir müssen wohl heute Abend noch einmal herkommen.«
    »Sie denken daran, mit Luma-Lite zu arbeiten?«
    »Wir werden UV-Licht brauchen, um es zu sehen.«
    »Wonach suchen Sie denn?«
    Sie drehte sich wieder zur Wand um. »Dr. Yeager saß hier, als er starb. Unser unbekannter Täter hat ihn aus dem Schlafzimmer herübergeschleift. Dann hat er ihn an die Wand gelehnt, und zwar so, dass sein Gesicht der Zimmermitte zugewandt war.«
    »Klar.«
    »Warum wurde er in diese Position gebracht? Warum hat der Täter sich die ganze Arbeit gemacht, während sein Opfer noch am Leben war? Es muss einen Grund dafür geben.«
    »Und welchen?«
    »Er wurde an die Wand gelehnt, weil er etwas sehen sollte. Weil er Zeuge dessen werden sollte, was sich hier in diesem Zimmer abspielte.«
    Jetzt endlich dämmerte in Korsaks entsetztem Gesicht die Erkenntnis. Er starrte die Wand an, wo Dr. Yeager gesessen hatte – der einzige Zuschauer in einem Theater des Grauens.
    »O Gott«, stieß er hervor. »Mrs. Yeager.«

2
    Rizzoli nahm sich vom Italiener an der Ecke eine Pizza mit und kramte zu Hause noch einen vergammelten Salatkopf aus dem Gemüsefach ihres Kühlschranks hervor. Sie zupfte die verwelkten braunen Blätter ab, bis sie zu dem gerade noch essbaren Kern vorgedrungen war. Es war ein blasser und wenig appetitanregender Salat, den sie mehr aus Pflichtgefühl als aus Genuss verzehrte. Zum Genießen fehlte ihr die Muße – sie aß nur, um ihren Energiespeicher für die vor ihr liegende Nacht aufzufüllen – eine Nacht, von der sie wünschte, sie wäre schon vorbei.
    Nach ein paar Bissen schob sie ihr Essen von sich und starrte auf die leuchtend roten Flecken von Tomatensauce auf ihrem Teller. Die Albträume holen dich ein, dachte sie. Du glaubst, du bist immun dagegen, du glaubst, genug Abstand gewonnen zu haben und stark genug zu sein, um mit ihnen zu leben. Und du spielst die Rolle gekonnt, du weißt, wie du sie alle austricksen kannst. Aber diese Gesichter lassen dir keine Ruhe. Die Augen der Toten.
    War Gail Yeager eine von ihnen?
    Rizzoli betrachtete ihre Hände, die Narbenwülste, die beide Handflächen entstellten wie verheilte Kreuzigungsmale. Immer, wenn es draußen kalt und feucht war, schmerzten ihre Hände – eine quälende Erinnerung an das, was Warren Hoyt ihr vor einem Jahr angetan hatte, an dem Tag, an dem er seine Klinge in ihr Fleisch gesenkt hatte. Die alten Wunden taten ihr auch jetzt weh, aber diesmal konnte sie es nicht auf das Wetter schieben. Nein, es lag an dem, was sie heute in Newton gesehen hatte. Das gefaltete Nachthemd. Die fächerförmigen Blutspritzer an der Wand. Sie hatte einen Raum betreten, in dem selbst die Luft noch vom Entsetzen gesättigt

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