Der Meister
Einzelheiten Ihres morgigen Flugs nach Washington mit Ihnen zu besprechen. Ich könnte Ihnen einen Platz in der Zwölf-Uhr-Maschine von US Airways buchen, Flug 6521 von Boston, Ankunft in Washington dreizehn Uhr sechsunddreißig. Wären Sie damit einverstanden?«
»Einen Augenblick bitte.« Rizzoli schnappte sich einen Stift und einen Notizblock und notierte die Daten. »Ja, das geht in Ordnung.«
»Und für den Rückflug nach Boston am Donnerstag hätten wir US Airways Flug 6406, Abflug Washington neun Uhr dreißig, Ankunft in Boston zehn Uhr dreiundfünfzig.«
»Ich soll über Nacht bleiben?«
»Das war der Wunsch von Agent Dean. Wir haben für Sie ein Zimmer im Watergate reserviert, es sei denn, Sie ziehen ein anderes Hotel vor.«
»Nein. Das … das Watergate ist schon in Ordnung.«
»Morgen früh um zehn Uhr holt eine Limousine Sie zu Hause ab und bringt Sie zum Flughafen. Und bei Ihrer Ankunft in D.C. wird ebenfalls ein Wagen für Sie bereitstehen. Würden Sie mir bitte Ihre Faxnummer durchgeben?«
Wenige Augenblicke später begann Rizzolis Faxgerät zu drucken. Sie setzte sich auf das Bett, starrte entgeistert das Blatt mit den säuberlich aufgelisteten Reisedaten an und staunte nur noch über das Tempo, in dem die Dinge sich entwickelten. In diesem Moment hatte sie keinen größeren Wunsch, als Thomas Moore anzurufen und ihn um seinen Rat zu bitten. Sie griff nach dem Hörer, doch dann legte sie ihn langsam wieder auf die Gabel. Deans Warnung hatte sie gründlich verunsichert, und sie mochte sich nicht mehr darauf verlassen, dass ihre eigene Telefonleitung nicht abgehört wurde.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihr allabendliches Sicherheitsritual noch nicht hinter sich gebracht hatte. Jetzt drängte es sie, sich noch einmal zu vergewissern, dass ihre Festung auch wirklich hundertprozentig gesichert war. Sie griff in die Nachttischschublade und nahm ihre Waffe heraus. Und dann ging sie von Zimmer zu Zimmer, wie sie es seit einem Jahr jeden Abend getan hatte, auf der Suche nach Monstern.
Meine liebe Dr. O’Donnell,
in Ihrem letzten Brief wollten Sie von mir wissen, wann ich erkannt habe, dass ich anders bin als alle anderen. Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht so sicher, dass ich tatsächlich anders bin. Ich glaube vielmehr, dass ich einfach nur ehrlicher bin, bewusster als die anderen. Mit einem besseren Gespür für jene primitiven Triebe, deren Einflüsterungen sich niemand von uns entziehen kann. Ich bin sicher, dass auch Sie dieses Flüstern vernehmen, dass auch vor Ihrem geistigen Auge bisweilen diese verbotenen Bilder aufblitzen, die für den Bruchteil einer Sekunde die dunkle Landschaft Ihres Unbewussten erhellen. Vielleicht gehen Sie eines Tages im Wald spazieren und entdecken einen merkwürdigen, bunt gefiederten Vogel, und Ihr allererster Impuls – den gleich darauf der Stiefelabsatz der höheren Moral in den Staub tritt – ist, diesen Vogel zur Strecke zu bringen. Ihn zu töten.
Es ist ein Instinkt, angelegt in unserer DNA. Wir sind alle Jäger, gestählt im Laufe der Jahrtausende durch die blutigen Prüfungen der Natur. Darin unterscheide ich mich nicht von Ihnen oder irgendwem sonst, und ich habe mit einiger Erheiterung die schier endlose Parade der Psychologen und Psychiater an mir vorüberziehen lassen, der Experten, die in den vergangenen zwölf Monaten in meinem Leben herumgewühlt haben in dem Versuch, mich zu verstehen. Meine Kindheit haben sie ausgeforscht, als ob es irgendwann in meiner Vergangenheit einen Moment gegeben hätte, irgendein bestimmtes Ereignis, durch das ich zu dem wurde, der ich heute bin. Ich fürchte, ich musste sie alle enttäuschen, denn es gab ihn nicht, diesen entscheidenden Moment. Ich habe lieber ihre Fragen gegen sie selbst gekehrt. Ich habe sie gefragt, wieso sie eigentlich glauben, dass sie anders sind. Sicherlich haben auch sie schon Bilder in ihren Köpfen mit sich herumgetragen, für die sie sich schämen; Bilder, die sie mit Entsetzen füllen; Bilder, die sie nicht unterdrücken können.
Ich beobachte sie amüsiert, wenn sie diese Unterstellungen empört zurückweisen. Sie lügen mich an, so wie sie sich selbst auch anlügen, aber ich sehe die Unsicherheit in ihren Augen. Es macht mir Spaß, sie so lange zu bedrängen, bis sie nicht mehr ausweichen können, sie zu zwingen, einen Blick in die Tiefe zu werfen, in die dunklen Abgründe ihrer Fantasien.
Der einzige Unterschied zwischen ihnen und mir besteht darin, dass ich weder Scham noch
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