Der Meister
Rizzoli musste ihre Ungeduld im Zaum halten, während der Kaffee eingeschenkt und Sahne und Zucker herumgereicht wurden. Endlich zog die Sekretärin sich ins Nebenzimmer zurück und machte die Tür hinter sich zu.
Conway stellte seine Tasse wieder ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Er hatte eigentlich gar keinen Kaffee gewollt, und jetzt, da der Form Genüge getan war, wandte er seine ganze Aufmerksamkeit Rizzoli zu. »Es war sehr freundlich von Ihnen zu kommen.«
»Ich hatte ja im Grunde keine Wahl.«
Ihre unverblümte Art entlockte ihm ein Lächeln. Conway hielt sich zwar strikt an die Regeln des guten Tons und der Gastfreundschaft, doch sie vermutete, dass er letztlich – wie die meisten alteingesessenen Neuengländer – ein offenes Wort ebenso zu schätzen wusste wie sie selbst. »Dann sollten wir wohl gleich zur Sache kommen?«
Sie stellte ihre Tasse ebenfalls ab. »Das wäre mir am liebsten.«
Es war Dean, der aufstand und zu Conways Schreibtisch hinüberging. Er kam mit einer prall gefüllten Sammelmappe zurück, nahm ein Foto heraus und legte es vor ihr auf den Couchtisch.
»Fünfundzwanzigster Juni 1999«, sagte er.
Sie starrte auf das Bild eines bärtigen Mannes, der zusammengesunken an einer weiß getünchten Wand lehnte. Hinter seinem Kopf waren Blutspritzer zu sehen. Der Mann trug eine dunkle Hose und ein zerrissenes weißes Hemd. Auf seinem Schoß war eine Porzellantasse mit Untertasse abgestellt.
Noch während sie im ersten Schock das Bild zu verarbeiten suchte, das sie gerade gesehen hatte, legte Dean bereits ein zweites Foto neben das erste. »Fünfzehnter Juli 1999«, sagte er.
Wieder war das Opfer ein Mann, im Gegensatz zum ersten glatt rasiert. Aber wie dieser war er im Sitzen gestorben, lehnte mit dem Rücken an einer blutbespritzten Wand.
Dean legte ein drittes Foto eines ermordeten Mannes auf den Couchtisch. Diese Leiche war jedoch bereits aufgedunsen, der Bauch aufgebläht von den Gasen, die der Verwesungsprozess freigesetzt hatte. »Zwölfter September«, kommentierte Dean. »Gleiches Jahr.«
Wie benommen saß sie vor dieser Galerie der Toten, die Dean fein säuberlich auf dem Kirschholztisch arrangiert hatte. Dokumente des Grauens, die inmitten des kultivierten Durcheinanders von Kaffeetassen, Teelöffeln und Zuckerdosen absolut fehl am Platz wirkten. Dean und Conway warteten schweigend, während sie ein Foto nach dem anderen zur Hand nahm und sich zwang, die Details zu registrieren, die jeden Fall einmalig machten. Doch es waren Variationen über ein Thema – das Thema, das sie bereits in den Wohnungen der Yeagers und der Ghents kennen gelernt hatte. Der stumme Zeuge. Der Besiegte, gezwungen, das Unaussprechliche mit anzusehen.
»Was ist mit den Frauen?«, fragte sie. »Es müssen auch Frauen betroffen gewesen sein.«
Dean nickte. »Nur eine konnte eindeutig identifiziert werden. Die Ehefrau des Opfers Nummer drei. Sie wurde im Wald gefunden, teilweise vergraben, ungefähr eine Woche nach dieser Aufnahme.«
»Todesursache?«
»Erdrosseln.«
»Wurde das Opfer nach dem Tod sexuell missbraucht?«
»An der Leiche wurde frisches Sperma sichergestellt.«
Rizzoli holte tief Luft. Leise fragte sie: »Und die beiden anderen Frauen?«
»Wegen der fortgeschrittenen Verwesung konnten ihre Leichen nicht sicher identifiziert werden.«
»Aber Sie haben Leichen gefunden?«
»Ja.«
»Und wieso konnten Sie sie nicht mit den üblichen Methoden identifizieren?«
»Weil wir es mit mehr als zwei Leichen zu tun hatten. Sehr viel mehr.«
Sie hob den Kopf und blickte direkt in Deans Augen. Hatte er sie die ganze Zeit beobachtet und nur auf ihre schockierte Reaktion gewartet? Als Antwort auf ihre stumme Frage reichte er ihr drei Aktenordner.
Sie schlug den ersten Ordner auf und fand den Obduktionsbericht über eines der drei männlichen Opfer. Automatisch blätterte sie zur letzten Seite vor und las die Zusammenfassung:
Todesursache: Massiver Blutverlust, verursacht durch einzelne Schnittwunde im Hals mit kompletter Durchtrennung der linken Kopfschlagader und der linken Drosselvene.
Der Dominator, dachte sie. Das ist sein Werk.
Sie ließ die Seiten zurückklappen, so dass sie wieder das erste Blatt des Berichts vor Augen hatte. Und plötzlich fiel ihr Blick auf ein Detail, das sie in der Eile übersehen hatte, weil sie sich nur für die Zusammenfassung interessiert hatte.
Es stand im zweiten Absatz: Autopsie durchgeführt am 16. Juli 1999, 22 Uhr 15, in mobiler Einrichtung
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