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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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und schläfrig, als ob er in Trance wäre.
    »Es geht vor allem um Macht. Um Gewalt über andere, um Dominanz. Und zwar nicht nur über die Frau, sondern auch über ihren Mann. Vielleicht ist es sogar in Wirklichkeit der Mann, der ihn erregt, der ein entscheidender Bestandteil seiner Fantasie ist. Unser unbekannter Täter kennt die Risiken, doch er kann nicht anders, er muss seinen Trieb ausleben. Seine Fantasien beherrschen ihn, und er beherrscht wiederum seine Opfer. Er ist allmächtig. Er ist der Meister, der Dominator. Sein Feind sitzt da, gefesselt und hilflos, und unser Täter tut das, was siegreiche Armeen schon immer getan haben. Er hat seine Trophäe erobert. Und er vergewaltigt die Frau. Seine Lust wird noch gesteigert durch Dr. Yeagers totale Niederlage. Hinter diesem Überfall steckt mehr als nur sexuelle Aggression; er ist eine Demonstration männlicher Macht. Der Sieg eines Mannes über einen anderen. Er ist der Eroberer, der sich seine Kriegsbeute mit Gewalt nimmt.«
    Die Studentinnen und Studenten draußen auf dem Rasen begannen ihre Sachen zusammenzupacken und sich das Gras von den Kleidern zu klopfen. Die Nachmittagssonne hüllte alles in einen goldenen Dunst. Und was erwartete diese jungen Leute als Nächstes an diesem Sommertag?, fragte Rizzoli sich. Vielleicht ein fröhlicher Abend mit Freunden bei Pizza und Bier. Und danach würden sie in einen tiefen, festen Schlaf fallen, ohne Albträume. Den Schlaf der Unschuldigen.
    Etwas, was mir für immer versagt bleiben wird.
    Ihr Handy trillerte. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und klappte das Gerät auf.
    Am anderen Ende war Erin Volchko vom Labor für Haar- und Faseranalysen. »Ich habe das Klebeband untersucht, das von Dr. Yeagers Leiche abgenommen wurde«, sagte Erin. »Den Bericht habe ich Detective Korsak schon zugefaxt. Aber ich dachte mir, dass Sie es sicher auch hören wollen.«
    »Was haben Sie denn herausgefunden?«
    »In der Klebemasse steckten einige kurze braune Haare. Körperbehaarung von den Armen und Beinen des Opfers, die beim Abziehen des Klebebands herausgerissen wurde.«
    »Und Fasern?«
    »Auch. Aber jetzt kommt das eigentlich Interessante. Auf dem Streifen, der von den Knöcheln des Opfers abgezogen wurde, befand sich ein einzelnes dunkelbraunes Haar von einundzwanzig Zentimetern Länge.«
    »Seine Frau ist blond.«
    »Ich weiß. Das macht dieses Haar ja auch so interessant.«
    Der Unbekannte, dachte Rizzoli. Es stammt von unserem Mörder. »Sind Epithelzellen dran?«
    »Ja.«
    »Das heißt, wir könnten mit diesem Haar die DNA bestimmen. Wenn Sie mit dem Sperma übereinstimmt …«
    »Das wird sie nicht.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Weil dieses Haar auf keinen Fall vom Mörder stammen kann.« Erin hielt kurz inne. »Es sei denn, er ist ein Zombie.«

4
    Für die Detectives der Mordkommission des Boston P. D. bedeutete ein Besuch im kriminaltechnischen Labor nur einen kurzen Gang durch eine sonnendurchflutete Passage zum Südflügel des Schroeder-Plaza-Gebäudes. Rizzoli war diesen Weg schon unzählige Male gegangen, und oft war ihr Blick zum Fenster hinaus über die Dächer von Roxbury geschweift, einem der Problemviertel Bostons, wo die Läden abends mit Gittern und Vorhängeschlössern gesichert wurden und so gut wie jedes geparkte Auto mit einer Wegfahrsperre ausgestattet war. Aber heute wollte sie nur Antworten auf ihre drängenden Fragen, und so schaute sie weder nach links noch nach rechts, sondern ging schnurstracks auf Zimmer S269 zu, das Labor für Haar- und Faserspuren.
    Dieser fensterlose, mit Mikroskopen und technischen Geräten wie einem Gaschromatographen voll gestopfte Raum war Erin Volchkos Reich. Vom Sonnenlicht und dem Blick ins Freie abgeschnitten, richtete sie ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die Welt unter der Linse ihres Mikroskops, und sie hatte die verkniffenen, stets halb geschlossenen Augen einer Frau, die zu lange durch ein Okular gestarrt hatte. Als Rizzoli eintrat, drehte Erin ihren Stuhl zu ihr um.
    »Ich habe es gerade eben für Sie unters Mikroskop gelegt. Werfen Sie mal einen Blick drauf.«
    Rizzoli nahm Platz und blickte durch das Okular des Lehrmikroskops. Sie sah ein einzelnes Haar, das sich horizontal über die Bildfläche erstreckte.
    »Das ist das lange braune Haar, das ich auf dem Streifen Klebeband gefunden habe, mit dem Dr. Yeager an den Knöcheln gefesselt war«, erklärte Erin. »Es ist das Einzige dieser Art, das an dem Band klebte. Alles andere waren kurze Haare von den

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