Der Meister
Armen und Beinen des Opfers, und dazu noch ein Kopfhaar an dem Streifen, den ihm der Täter über den Mund geklebt hat. Aber dieses lange Haar dort ist ein Einzelstück. Und es gibt uns auch einige Rätsel auf. Es passt weder zum Kopfhaar des Opfers noch zu denen, die wir aus der Haarbürste seiner Frau entnommen haben.«
Rizzoli verschob den Objektträger und betrachtete eingehend den Haarschaft. »Es ist definitiv ein menschliches Haar?«
»Ja.«
»Und weshalb kann es nicht von unserem Täter stammen?«
»Schauen Sie es sich genau an und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Rizzoli hielt kurz inne und versuchte sich an das zu erinnern, was sie über forensische Haaruntersuchungen gelernt hatte. Sie wusste, dass Erin den analytischen Prozess aus einem ganz bestimmten Grund so systematisch mit ihr durchging, und sie konnte die unterdrückte Erregung in ihrer Stimme hören. »Dieses Haar ist gebogen, mit einem Krümmungsgrad von etwa 0,1 oder 0,2. Und Sie sagten, die Schaftlänge betrage einundzwanzig Zentimeter.«
»Was einer durchschnittlichen Damenfrisur entspricht«, sagte Erin. »Aber ziemlich lang für einen Mann.«
»Ist es die Länge, über die Sie sich Gedanken machen?«
»Nein. Die Länge sagt nichts über das Geschlecht aus.«
»Und worauf soll ich mich überhaupt konzentrieren?«
»Auf das proximale Ende, also die Wurzel. Fällt Ihnen da etwas Ungewöhnliches auf?«
»Das Wurzelende sieht ein wenig zerfranst aus. Ein bisschen wie eine Bürste.«
»Das ist genau das Wort, das auch ich benutzen würde. Wir sprechen tatsächlich von einem bürstenartigen Wurzelende. Es handelt sich um eine Ansammlung kortikaler Fäserchen. Indem wir uns die Wurzel ansehen, können wir ermitteln, in welcher Wachstumsphase sich dieses Haar befand. Möchten Sie vielleicht einmal raten?«
Rizzoli betrachtete das zwiebelförmige Wurzelende mit seiner hauchdünnen Hülle. »An der Wurzel hängt etwas Transparentes.«
»Eine Epithelzelle«, sagte Erin.
»Das bedeutet, dass es sich in einer aktiven Wachstumsphase befand.«
»Ja. Die Wurzel selbst ist leicht vergrößert; das heißt, dieses Haar befand sich im Endstadium der anagenen Phase, also im letzten Teil der aktiven Wachstumsperiode. Und diese Epithelzelle könnte uns DNA liefern.«
Rizzoli hob den Kopf und sah Erin fragend an. »Ich verstehe nicht, was das mit Zombies zu tun haben soll.«
Erin lachte leise auf. »Das habe ich ja auch nicht wörtlich gemeint.«
»Und wie haben Sie es gemeint?«
»Sehen Sie sich den Haarschaft noch einmal genau an. Fangen Sie bei der Wurzel an.«
Rizzoli legte ihr Auge wieder an das Okular und erblickte ein Segment des Haarschafts, das etwas dunkler war als der Rest. »Die Farbe ist nicht einheitlich«, stellte sie fest.
»Fahren Sie fort.«
»Da ist ein schwarzer Streifen am Schaft, nicht weit von der Wurzel entfernt. Was hat der zu bedeuten?«
»Man spricht hier von einer distalen Bändelung der Haarwurzel«, sagte Erin. »Was Sie sehen, ist die Stelle, wo die Talgdrüse in den Follikel mündet. Das Sekret der Talgdrüsen enthält Enzyme, die Zellen spalten – eine Art von Verdauungsprozess. Das verursacht diese Schwellung und lässt einen solchen schwarzen Streifen nahe dem Wurzelende des Haares entstehen. Das ist es, was ich Ihnen zeigen wollte. Die distale Ringbildung. Damit ist definitiv ausgeschlossen, dass es sich um ein Haar unseres Täters handeln könnte. Es könnte von seiner Kleidung stammen. Aber nicht von seinem Kopf.«
»Warum nicht?«
»Sowohl die distale Ringbildung als auch die bürstenartigen Wurzelenden sind postmortale Veränderungen.«
Rizzoli hob ruckartig den Kopf. Sie starrte Erin an. »Postmortal?«
»Richtig. Das Haar stammt von einer verwesenden Kopfhaut. Die Veränderungen an diesem Exemplar sind klassisch, und sie sind ziemlich spezifisch für den Verwesungsprozess. Wenn Ihr Killer nicht von den Toten auferstanden ist, dann kann dieses Haar nicht von seinem Kopf stammen.«
Rizzoli brauchte einen Moment, um die Sprache wiederzufinden. »Wie lange müsste der oder die Betreffende schon tot sein, damit das Haar diese Veränderungen aufweist?«
»Leider sind diese Ringbildungen nicht sehr hilfreich, wenn es darum geht, die seit dem Tod verstrichene Zeit zu bestimmen. Das Haar kann der Leiche irgendwann zwischen acht Stunden und mehreren Wochen nach dem Tod ausgerissen worden sein. Selbst Haare von Toten, die vor Jahren einbalsamiert wurden, könnten genauso aussehen.«
»Und was ist, wenn man
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