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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Stony-Brook-Reservat durch den Wald gestreift war, und in diesem überklimatisierten Raum fühlte sich der Schweiß auf ihrer Haut kalt wie Reif an. Gegessen hatte sie auch noch nichts, und vor Hunger war ihr schon leicht schwindlig. Zum ersten Mal in ihrer Laufbahn überlegte sie, ob sie sich nicht doch lieber ein wenig Mentholsalbe unter die Nase reiben sollte, um sich vor den üblen Gerüchen im Obduktionssaal zu schützen, doch sie widerstand der Versuchung. Sie hatte noch nie auf dieses Hilfsmittel zurückgegriffen, weil sie es als Zeichen der Schwäche empfand. Wer bei der Mordkommission arbeitete, sollte sich allen Aspekten des Jobs stellen, auch den unangenehmsten; und während ihre Kollegen sich hinter einem Schutzschild aus Menthol und Eukalyptus verstecken mochten, hatte sie stets geradezu verbissen darauf beharrt, sich den unverfälschten Gerüchen der Leichenhalle auszusetzen.
    Sie holte noch einmal tief Luft – eine letzte Lunge voll unverpesteter Luft –, bevor sie die Tür aufstieß und den Saal betrat.
    Sie hatte damit gerechnet, dass Dr. Isles und Korsak sie erwarten würden, aber dass sie auch Gabriel Dean hier antreffen würde, hätte sie nicht gedacht. Er stand auf der anderen Seite des Tisches, Hemd und Krawatte durch einen OP-Kittel geschützt. Während Korsak die Erschöpfung deutlich anzusehen war, am Gesicht wie an den schlaff herabhängenden Schultern, schienen die Ereignisse des Tages Agent Dean weder körperlich noch psychisch mitgenommen zu haben. Nur der leichte Anflug von Bartstoppeln auf Kinn und Wangen beeinträchtigte sein adrettes und gepflegtes Erscheinungsbild ein wenig. Er sah sie mit dem unverfrorenen Blick eines Mannes an, der wusste, dass ihm niemand das Recht streitig machen konnte, dieser Obduktion beizuwohnen.
    Im grellen Licht der Untersuchungslampen schien der Zustand der Leiche noch weitaus schlechter, als Rizzoli ihn vor einigen Stunden empfunden hatte. Aus Nase und Mund war noch weitere Flüssigkeit ausgetreten, die sich in blutroten Bahnen über das Gesicht zog. Der Unterbauch war so aufgebläht, dass es aussah, als sei die Tote hochschwanger gewesen. Unter der Haut hatten sich mit Flüssigkeit gefüllte Blasen gebildet, über denen die oberen Hautschichten wie Papier abblätterten. Ab dem Rumpf begann die Haut sich bereits großflächig zu schälen, und unterhalb der Brüste runzelte sie sich wie zerknittertes Pergament.
    Rizzoli bemerkte, dass die Fingerkuppen eingefärbt waren. »Sie haben schon Fingerabdrücke abgenommen.«
    »Kurz bevor Sie gekommen sind«, bestätigte Dr. Isles, ohne den Blick von dem Tablett mit Instrumenten zu wenden, das Yoshima soeben auf einem Rolltisch herangefahren hatte. Die Toten interessierten Isles mehr als die Lebenden, und wie gewöhnlich nahm sie die emotionalen Spannungen, von denen die Luft im Raum vibrierte, überhaupt nicht wahr.
    »Konnten Sie die Hände überhaupt untersuchen? Bevor Sie sie eingefärbt haben?«
    »Die äußere Besichtigung ist abgeschlossen«, antwortete Agent Dean. »Wir haben die Haut mit Klebeband auf Faserspuren untersucht und Fingernagelproben genommen.«
    »Und seit wann sind Sie hier, Agent Dean?«
    »Er war auch schon vor mir hier«, sagte Korsak. »Manche sind in der Nahrungskette eben ein bisschen höher angesiedelt.«
    Falls Korsaks Bemerkung den Zweck hatte, ihren Ärger noch weiter anzustacheln, so war es ihm gelungen. Wenn das Mordopfer sich durch Kratzen gegen den Angreifer gewehrt hat, können unter den Fingernägeln der Leiche Hautpartikel des Mörders zurückbleiben, und in einer geschlossenen Faust können sich Haare oder Fasern verbergen. Die Untersuchung der Hände war ein erster wesentlicher Schritt bei der Obduktion, und sie hatte diesen Schritt verpasst.
    Im Gegensatz zu Dean.
    »Wir haben sie bereits sicher identifiziert«, sagte Isles.
    »Die Röntgenaufnahmen von Gail Yeagers Gebiss hängen dort am Leuchtkasten.«
    Rizzoli trat an den Kasten und betrachtete die Serie kleinformatiger Aufnahmen, die dort hingen. Vor dem dunklen Hintergrund des Films schimmerten die Zähne gespenstisch wie eine Reihe von Grabsteinen.
    »Mrs. Yeagers Zahnarzthat ihr letztes Jahr eine Krone eingesetzt. Sie können sie dort sehen. Die Goldkrone ist die Nummer 20 in der Reihe. Außerdem hatte sie Amalgamfüllungen in Nr. 3, 14 und 29.«
    »Und es stimmt alles überein?«
    Dr. Isles nickte. »Ich habe keinerlei Zweifel, dass es sich hier um die sterblichen Überreste von Gail Yeager handelt.«
    Rizzoli

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