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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Zeitpunkt gewartet, um mich ihrer Zauberwirkung zu bedienen.
    Ich habe auf ein Zeichen gewartet.
    Ich sitze auf der Pritsche in meiner Zelle, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien. Die Überwachungskamera sieht nur einen wissbegierigen Gefangenen, der William Shakespeare: Sämtliche Werke liest. Sie kann nicht durch die Buchdeckel hindurchsehen. Sie kann nicht sehen, was ich in der Hand halte.
    Unten im Tagesraum dröhnt ein Werbespot aus dem Fernseher, und auf der Tischtennisplatte klackt der Ball hin und her. Wieder mal ein interessanter Abend in Block C. In einer Stunde wird die Stimme aus dem Lautsprecher den Beginn der Nachtruhe ankündigen, die Männer werden die Treppe zu ihren Zellen hochstapfen, und die Metallstufen werden von ihren Schuhen widerhallen. Dann werden sie alle in ihren Zellen verschwinden, wie dressierte Ratten, die auf die Stimme ihres Herrn aus dem Lautsprecher hören. Im Wachraum wird der Befehl in den Computer eingegeben werden, und alle Türen werden sich gleichzeitig schließen und die Ratten für den Rest der Nacht einsperren.
    Ich beuge mich noch ein wenig vor und halte mir das Buch dichter vor die Augen, als ob mir die Schrift zu klein sei. Hochkonzentriert starre ich auf den Beginn der dritten Szene im dritten Akt von Was ihr wollt: » Eine Straße. Antonio und Sebastian treten auf … «
    Hier gibt es nichts zu beobachten, Freunde. Da ist nur ein Mann auf seiner Pritsche, der ein Buch liest. Ein Mann, der plötzlich hustet und sich reflexartig die Hand vor den Mund hält. Die Kamera kann die kleine Tablette in meiner Hand nicht erfassen. Sie sieht nicht die rasche Bewegung meiner Zunge, sieht nicht die Pille, die wie eine bittere Hostie auf ihr liegt und in meinen Mund gezogen wird. Ich schlucke die Tablette trocken hinunter. Ich brauche kein Wasser – sie ist klein genug, um auch so gut zu rutschen.
    Schon bevor sie sich in meinem Magen auflöst, bilde ich mir ein, dass ich ihre Wirkung spüren kann, den wundertätigen Stoff, der durch meine Blutbahn strömt. Decadron ist der Markenname für Dexamethason, ein Steroidhormon der Nebennierenrinde mit massiven Auswirkungen auf jedes Organ des menschlichen Körpers. Glukokortikoide wie Decadron beeinflussen alles, vom Blutzucker über die Flüssigkeitsausscheidung bis hin zur DNA-Synthese. Ohne sie bricht der Organismus zusammen. Sie steuern den Blutdruck und lindern den Schock von Verletzungen und Infektionen. Sie haben Auswirkungen auf Knochenwachstum und Fruchtbarkeit, Muskelentwicklung und Immunabwehr.
    Sie verändern die Zusammensetzung unseres Bluts.
    Als sich dann die Käfigtüren schließen und das Licht ausgeht, liege ich auf meiner Pritsche und spüre, wie das Blut durch meine Adern pulst. Ich stelle mir die Zellen vor, wie sie durch meine Venen und Arterien strömen.
    Ich habe schon oft Blutzellen unter dem Mikroskop betrachtet. Ich weiß Bescheid über alle ihre Formen und Funktionen, und mit einem einzigen Blick durch das Okular kann ich feststellen, ob ein Blutabstrich normal ist. Ich kann auf Anhieb die Prozentanteile der verschiedenen Leukozyten schätzen – der weißen Blutkörperchen, die uns vor Infektionen schützen. Der Test nennt sich Differenzial-Blutbild, und ich habe ihn als medizinisch-technischer Assistent unzählige Male durchgeführt.
    Ich denke an die Leukozyten, die in meinen eigenen Adern zirkulieren. In diesem Augenblick geht eine Veränderung in meinem Blutbild vor sich. Die Decadron-Tablette, die ich vor zwei Stunden geschluckt habe, hat sich inzwischen in meinem Magen aufgelöst; das Hormon strömt durch meinen Körper und übt seine magische Wirkung aus. Wenn man mir jetzt eine Blutprobe entnähme, würde man eine verblüffende Anomalie feststellen: riesige Scharen von weißen Blutkörperchen mit segmentiertem Kern und körniger Struktur. Es sind die so genannten neutrophilen Granulozyten, die automatisch in Aktion treten, wenn der Körper von einer massiven Infektion bedroht ist.
    Wenn man Hufgetrappel hört, so bringt man es angehenden Medizinern bei, dann sollte man zuerst an Pferde und nicht an Zebras denken. Und der Arzt, der mein Blutbild sieht, wird sicherlich an Pferde denken. Er wird eine vollkommen logische Schlussfolgerung ziehen. Er wird nicht auf den Gedanken kommen, dass es diesmal tatsächlich ein Zebra ist, das vorübergaloppiert.
     
    Im Umkleideraum der Rechtsmedizin legte Rizzoli Kittel, Handschuhe, Haube und Überschuhe an. Sie hatte keine Zeit zum Duschen gehabt, seit sie im

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