Der Meister
schon länger tot sein; der Bauch war aufgetrieben, und dunkelrote Flüssigkeit rann aus den Nasenlöchern. Aber solche Details verblassten in Rizzolis Augen, als sie voller Entsetzen sah, was der Täter mit dem Unterleib seines Opfers angerichtet hatte. Sprachlos starrte sie in die klaffende Wunde. Ein einzelner Schnitt quer durch die Bauchdecke.
Der Boden schien unter ihren Füßen nachzugeben, und sie strauchelte rückwärts, suchte blind tastend einen Halt und fand keinen.
Es war Dean, der sie auffing und sie mit sicherem Griff unter dem Ellenbogen packte. »Es ist kein Zufall«, sagte er.
Sie schwieg. Sie konnte den Blick nicht von dieser entsetzlichen Verletzung wenden. Andere Wunden an den Körpern anderer Frauen fielen ihr ein. Und ein Sommer, der noch heißer gewesen war als dieser.
»Er hat die Nachrichten verfolgt«, sagte Dean. »Er weiß, dass Sie die Ermittlungen leiten. Er weiß, wie man den Spieß umdreht, wie man im Katz-und-Maus-Spiel ganz schnell die Rollen wechseln kann. Und genau das ist es jetzt für ihn – ein Spiel.«
Sie hörte seine Worte, aber sie begriff nicht, was er ihr damit sagen wollte. »Welches Spiel?«
»Haben Sie denn den Namen nicht gelesen?« Er richtete seine Taschenlampe auf die Worte, die in den Granit des Grabsteins gemeißelt waren:
HIER RUHT ANTHONY RIZZOLI
LIEBENDER GATTE UND GÜTIGER VATER
1901-1962
»Es ist eine zynische Botschaft«, sagte Dean. »Und sie ist eindeutig an Sie adressiert.«
13
Die Frau, die an Korsaks Bett saß, hatte strähnige braune Haare, die aussahen, als seien sie seit Tagen nicht mehr gewaschen oder gekämmt worden. Sie hielt nicht seine Hand, sondern starrte nur mit leerem Blick auf das Bett, die Hände, leblos wie die einer Puppe, in den Schoß gelegt. Rizzoli stand vor dem Fenster von Korsaks Kabine auf der Intensivstation und überlegte hin und her, ob sie hineingehen und die beiden stören sollte. Schließlich hob die Frau den Kopf, ihre Blicke trafen sich durch das Fenster, und nun konnte Rizzoli nicht einfach wieder gehen.
Sie trat durch die Tür. »Mrs. Korsak?«, fragte sie.
»Ja?«
»Ich bin Detective Rizzoli. Jane. Bitte sagen Sie Jane zu mir.«
Die Miene der Frau zeigte keine Regung; offensichtlich sagte der Name ihr nichts.
»Ich weiß leider Ihren Vornamen nicht«, sagte Rizzoli.
»Diane.« Die Frau schwieg einen Moment; dann runzelte sie die Stirn. »Tut mir Leid. Wer sind Sie noch mal?«
»Jane Rizzoli. Ich bin vom Boston P. D. Ich habe mit Ihrem Mann zusammen an einem Fall gearbeitet. Er hat vielleicht davon gesprochen.«
Diane zuckte gleichgültig mit den Achseln und wandte sich wieder zu ihrem Mann um. Ihr Gesicht drückte weder Trauer noch Angst aus. Nur die dumpfe Passivität der Erschöpfung.
Eine Weile stand Rizzoli einfach nur schweigend da und blickte auf das Bett herab. So viele Schläuche, dachte sie. So viele Apparate. Und inmitten all dieser Technik lag Korsak, der von alldem nichts wahrnahm, reduziert auf seine körperlichen Funktionen. Die Ärzte hatten den Verdacht auf Herzinfarkt bestätigt, und obwohl sein Herzschlag sich inzwischen stabilisiert hatte, war er immer noch in einem Zustand tiefer Benommenheit. Ein Endotrachealtubus ragte aus seinem offenen Mund wie eine Plastikschlange. In einem Beutel an der Seite des Bettes sammelte sich der Urin, der langsam aus dem Katheter tröpfelte. Zwar waren seine Genitalien mit einem Laken verhüllt, doch Brust und Bauch waren entblößt, und unter dem Laken ragte ein Stück eines behaarten Beins und ein Fuß mit gelblichen, ungeschnittenen Zehennägeln hervor. Rizzoli nahm die Details wahr und schämte sich im gleichen Moment für diese Verletzung seiner Intimsphäre. Doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Wie unter Zwang starrte sie ihn an und registrierte all die Dinge, die er sie, wäre er bei Bewusstsein gewesen, niemals freiwillig hätte sehen lassen.
»Er hätte mal eine Rasur nötig«, sagte Diane.
So eine banale Sorge – und doch war es die einzige spontane Bemerkung, die Diane bisher gemacht hatte. Sie hatte keinen einzigen Muskel bewegt, sondern saß nur vollkommen regungslos auf ihrem Stuhl, die Hände nach wie vor schlaff in den Schoß gelegt, die gleichgültige Miene wie in Stein gemeißelt.
Rizzoli überlegte krampfhaft, was sie sagen könnte, was sie zu Diane sagen sollte , um ihr Trost zu spenden, und behalf sich schließlich mit einem Klischee. »Er ist eine Kämpfernatur. Er wird nicht so leicht
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