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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Ventilators, das Knacken der Leitungen im Mauerwerk. Alltägliche Geräusche, die sie bisher nie bewusst wahrgenommen hatte – an deren schiere Normalität sie sich aber jetzt dankbar klammerte.
    Als ihr Herzschlag sich endlich wieder normalisiert hatte, war das Wasser auf ihrer Haut bereits abgekühlt. Sie stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und wischte anschließend auf den Knien die Pfütze vom Boden auf. Im Dienst mochte sie noch so sehr die starke Frau, die toughe Polizistin herauskehren – hier und jetzt war sie nicht mehr als ein zitterndes, hilfloses Wesen. Sie sah in den Spiegel und erkannte, wie sehr die ständige Angst sie verändert hatte. Die Frau, die sie erblickte, hatte stark abgenommen, ihre ohnehin schon schlanke Figur schien jetzt geradezu ausgemergelt. Ihr Gesicht, früher kantig und robust, wirkte nun gespenstisch hager, die Augen lagen groß und dunkel in ihren eingesunkenen Höhlen.
    Sie floh vor dem Spiegel ins Schlafzimmer. Mit immer noch feuchten Haaren legte sie sich ins Bett und starrte an die Decke. Sie wusste, dass sie versuchen sollte, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen. Aber durch die Ritzen der Jalousie fiel helles Tageslicht herein, und sie konnte den Verkehr unten auf der Straße hören. Es war Mittag; sie war jetzt seit dreißig Stunden wach und hatte seit fast zwölf Stunden nichts mehr gegessen. Und doch konnte sie weder den nötigen Appetit zum Essen noch den Willen zum Einschlafen aufbringen. Die Ereignisse der frühen Morgenstunden kreisten immer noch wie elektrischer Strom durch ihre Nervenbahnen, und die Bilder der Erinnerung liefen vor ihren Augen ab wie in einer Endlosschleife. Sie sah die klaffende Wunde im Hals des Wachmanns, seinen Kopf, der in einem grotesken Winkel vom Rumpf weggedreht war. Sie sah Karenna Ghent, ihre langen Haare mit Blättern durchsetzt.
    Und sie sah Korsaks mit Schläuchen und Drähten gespickten Körper.
    Die drei Bilder kreisten wie eine irre Leuchtreklame in ihrem Kopf; es gelang ihr nicht, sie auszublenden. Sie konnte das elektrische Summen nicht zum Schweigen bringen. Fühlte es sich so an, wenn man den Verstand verlor?
    Vor Wochen hatte Dr. Zucker ihr dringend geraten, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, und sie hatte seinen Vorschlag empört zurückgewiesen. Jetzt fragte sie sich, ob er nicht in ihren Worten, in ihrem Blick irgendetwas entdeckt hatte, was ihr selbst nicht bewusst gewesen war. Die ersten Risse in ihrer Psyche – Risse, die von Tag zu Tag tiefer und weiter wurden, seit der Chirurg ihr Leben in den Grundfesten erschüttert hatte.
     
    Das Klingeln des Telefons riss sie aus dem Schlaf. Es kam ihr vor, als habe sie eben erst die Augen zugemacht, und das erste Gefühl, das in ihr aufwallte, während sie nach dem Hörer tastete, war Wut: Nicht einmal einen kurzen Moment der Ruhe schien man ihr gönnen zu wollen. Sie meldete sich mit einem knappen: »Rizzoli.«
    »Äh … Detective Rizzoli, hier spricht Yoshima vom Rechtsmedizinischen Institut. Dr. Isles hatte Sie eigentlich zu der Ghent-Obduktion erwartet.«
    »Ich komme ja auch.«
    »Nun ja, jetzt hat sie bereits angefangen, und …«
    »Wie spät ist es?«
    »Kurz vor vier. Wir haben versucht, Sie anzupiepsen, aber Sie haben nicht zurückgerufen.«
    Sie setzte sich so abrupt auf, dass sich das ganze Zimmer um sie drehte. Unwillig schüttelte sie den Kopf und warf einen Blick auf den Wecker an ihrem Bett: 16:52. Sie hatte das Klingeln glatt überhört, und den Beeper ebenso. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich komme, so schnell ich kann.«
    »Bleiben Sie noch einen Moment dran. Dr. Isles möchte Sie sprechen.«
    Sie hörte das Klappern von Instrumenten auf einem Tablett; dann meldete sich Dr. Isles: »Detective Rizzoli, Sie kommen doch, nicht wahr?«
    »Ich werde aber eine halbe Stunde brauchen.«
    »Dann warten wir auf Sie.«
    »Ich will Sie nicht aufhalten.«
    »Dr. Tierney kommt auch. Das müssen Sie sich beide ansehen.«
    Das war äußerst ungewöhnlich. Wieso zitierte Dr. Isles den erst kürzlich in den Ruhestand versetzten Dr. Tierney her, wo sie doch ein ganzes Team von Pathologen zur Verfügung hatte?
    »Gibt es irgendein Problem?«, fragte Rizzoli.
    »Diese Wunde am Bauch des Opfers«, erwiderte Dr. Isles. »Die Frau ist nicht einfach so aufgeschlitzt worden. Es handelt sich um einen chirurgischen Einschnitt.«
    Dr. Tierney stand bereits fertig eingekleidet im Obduktionssaal, als Rizzoli ankam. Wie Dr. Isles verzichtete er gewöhnlich auf eine

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