Der Meister
Leben kämpfte, machte sie sich selbst die bittersten Vorwürfe. Wieso hatte sie seine Abwesenheit nicht bemerkt? Ihre Muskeln brannten, ihre Knie schmerzten, aber sie hörte nicht auf. Das war sie ihm verdammt noch mal schuldig; ein zweites Mal würde sie ihn nicht im Stich lassen.
Ein Rettungswagen näherte sich mit heulender Sirene.
Sie massierte immer noch, als die Sanitäter hinzukamen. Erst als jemand sie am Arm fasste und sanft beiseite zog, überließ sie ihnen das Feld. Mit zitternden Knien trat sie ein paar Schritte zurück, während die Sanitäter den Patienten übernahmen, ihm einen intravenösen Zugang legten, einen Beutel Kochsalzlösung einhängten und Korsaks Kopf nach hinten beugten, um einen Laryngoskop-Spatel in seinen Hals einzuführen.
»Ich kann die Stimmbänder nicht sehen!«
»Mein Gott, hat der einen dicken Hals!«
»Hilf mir mal, ihn anders hinzulegen.«
»Okay. Jetzt versuch’s noch mal.«
Wieder führte der Sanitäter das Laryngoskop ein, wobei er Mühe hatte, Korsaks Unterkiefer in Position zu halten. Mit seinem massigen Nacken und der geschwollenen Zunge glich Korsak einem frisch geschlachteten Bullen.
»Der Schlauch ist drin!«
Sie rissen Korsak das Hemd ganz vom Leib und klatschten die Elektroden des Defibrillators auf den dichten Pelz, der seine Brust bedeckte. Auf dem Herzmonitor erschien eine gezackte Linie.
»Er ist tachykard!«
Die Elektroden entluden sich, und ein starker Stromschlag fuhr durch Korsaks Brust. Seine Muskeln krampften sich derart zusammen, dass sein schwerer Rumpf ein ganzes Stück vom Rasen abhob, bevor er wieder schlaff in sich zusammensank. Die Taschenlampen der umstehenden Cops hoben jedes Detail gnadenlos hervor, von dem bleichen Bierbauch bis hin zu den fast weiblichen Brüsten, die vielen übergewichtigen Männern so peinlich sind.
»Okay! Er hat einen Rhythmus. Sinustachykardie …«
»Blutdruck?«
Die Manschette schloss sich zischend um den fleischigen Arm. »Systolisch bei neunzig. Bringen wir ihn weg!«
Auch als sie Korsak schon längst in den Rettungswagen geschoben hatten und die Rücklichter im Dunkel der Nacht verschwunden waren, rührte Rizzoli sich nicht von der Stelle. Wie betäubt vor Erschöpfung starrte sie dem Wagen nach und malte sich aus, was Korsak nun erwartete. Die grellen Lichter der Notaufnahme. Noch mehr Nadeln und Schläuche. Dann fiel ihr ein, dass sie wohl seine Frau anrufen sollte, doch sie wusste nicht einmal ihren Namen. Sie wusste so gut wie nichts über sein Privatleben, und sie fand den Gedanken plötzlich unendlich traurig, dass sie weit besser über die toten Yeagers Bescheid wusste als über den lebendigen Menschen, mit dem sie Seite an Seite gearbeitet hatte. Den Partner, den sie im Stich gelassen hatte.
Sie blickte auf die Stelle im Gras hinab, wo er gelegen hatte. Der Abdruck seines Körpers war noch deutlich zu sehen. Sie stellte sich vor, wie er hinter ihr her gerannt war. Sehr bald musste ihm die Puste ausgegangen sein, er war nicht mehr nachgekommen. Aber getrieben von Stolz und männlicher Eitelkeit hatte er sich weitergequält. Hatte er sich ans Herz gefasst, bevor er zusammengebrochen war? Hatte er versucht, um Hilfe zu rufen?
Ich hätte ihn ohnehin nicht gehört. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Schatten nachzujagen. Mit dem Versuch, meine eigene Ehre zu retten.
»Detective Rizzoli?«, sagte Officer Doud. Er war so leise an sie herangetreten, dass sie ihn nicht bemerkt hatte, obwohl er direkt neben ihr stand.
»Ja?«
»Ich fürchte, wir haben noch eine gefunden.«
»Was?«
»Noch eine Leiche.«
Sie war so geschockt, dass sie kein Wort hervorbrachte, während sie Doud durch das feuchte Gras folgte, geleitet vom Schein seiner Taschenlampe. Das Flackern weiterer Lichter in einiger Entfernung zeigte ihnen den Weg. Als sie schließlich den ersten Hauch des Verwesungsgeruchs wahrnahm, waren sie mehrere hundert Meter von der Stelle entfernt, wo der Wachmann ermordet worden war.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte sie.
»Agent Dean.«
»Warum hat er denn hier draußen gesucht?«
»Ich nehme an, er hat einen Rundgang über das ganze Gelände gemacht.«
Dean drehte sich zu ihr um, als sie näher kam. »Ich glaube, wir haben Karenna Ghent gefunden«, sagte er.
Die Frau lag mitten auf einem Grab. Ihr schwarzes Haar war in einem weiten Fächer um ihren Kopf ausgebreitet, hier und da mit Blättern verflochten – eine Zierde, die angesichts der Umstände wie der reine Hohn wirkte. Sie musste
Weitere Kostenlose Bücher