Der Memory Code
als dauerte es Jahrhunderte, um die bange Ahnung in ihrem Blick zu überwinden und zur Sehnsucht durchzustoßen.
So sehr war er versunken in ihren Anblick, dass er nicht bemerkte, wie ihn der Duft von Jasmin und Sandelholz überkam. Ihm blieb keine Zeit mehr, sich gegen den Zeitsprung zu stemmen. Er hatte ihn nicht kommen sehen.
45. KAPITEL
J ulius und Sabina
Rom – 391 nach Christus
Dicht gedrängt säumten die Zuschauermassen die Straßen, als die Prozession auf das Stadttor vorrückte. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren sollte eine Vestalin als Strafe für den Bruch ihres Gelübdes lebendig begraben werden – Schauspiel, Kurzweil, Spektakel für den Pöbel.
Auf ihrem Totenbett sitzend, hoch oben auf einem von sechs Priestern des Kollegs getragenen Wagen, verfolgte Sabina mit Blicken eine Frau, die, einen Säugling in den Armen, neben dem Karren schritt. Während des gesamten langen, langsamen Zuges ließ Sabina die beiden nicht aus den Augen.
Aufgewirbelter Staub drang den Trägern in die Nase, erschwerte ihnen die Sicht und überzog ihre Haut mit einer schmutzigen Schicht. Im Grunde war es zu heiß für einen Marsch über eine solche Distanz, zumal die Priester dabei noch die Verurteilte tragen mussten. Auch die Menge geriet bei dieser Hitze leicht in Wallung; schon brandeten die ersten wüsten Verwünschungen und Schmährufe auf.
Julius fürchtete, dass es selbst bei dieser heiligen Prozession zu Übergriffen kommen würde. Im vergangenen Monat hatte der Imperator eine Proklamation erlassen mit dem Befehl an alle Untertanen, sämtliche unverbesserlichen Heiden zu ermuntern, sich zum Christentum zu bekennen.
Diese “Ermunterung” wurde dabei sehr unterschiedlich ausgelegt. Weitere Tempel waren geplündert, noch mehr Priester bei Kulthandlungen tätlich angegriffen, weitere Brände gelegt und Bauten bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden. Römische Bürger, die vor Monaten noch die heimischen Götter verehrt hatten, gingen inzwischen mit Waffengewalt auf die heiligen Männer los – entweder aus echtem Glaubenseifer, oder um sich bei den neuen Machthabern einzuschmeicheln. Mit jedem niedergemachten Pontifex wuchsen die kaiserliche Kontrolle und Macht. Das war inzwischen das Wesen der Religion: Macht.
Nacht für Nacht hatten sich Julius und Lucas auch weiterhin heimlich getroffen und Pläne geschmiedet, oft verstärkt durch Drago, Julius’ Bruder und Mitpriester. Die augenblickliche Prozession war Teil ihrer Planung.
Neun Wochen zuvor hatte Sabina es aufgegeben, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Nun sollte sie eingemauert werden, wie Brauch und Gesetz es befahlen, eine Woche nach der Geburt des Kindes. Die dafür vorgesehene Grabkammer war bereits ausgehoben, oben in den Hügeln unweit des Heiligen Hains.
Da niemand wusste, dass Julius der Kindesvater war, hatte man auch noch keine Strafe gegen ihn verhängt, und er hatte sich unbehelligt an den Grabarbeiten beteiligen können. Die eigentliche Krypta gestaltete man zu einem wahren Vorzeigeobjekt: Es wurden eigens Künstler gedungen, die meisterhafte Wandmalereien anbrachten und einen aufwendigen Mosaikboden legten.
Während in der vergangenen Woche letzte Hand an Sabinas ewige Ruhestätte gelegt worden war, hatte die Verurteilte selbst lächelnd in der Nähe gesessen und summend ihr Kind gestillt. Sie war indes nicht die einzige Beobachterin. Überall lauerten die Kundschafter des Kaisers. Aber die gehörten zum Plan dazu, und Julius zählte regelrecht auf sie. Deshalb erfolgten die Grabarbeiten auch am helllichten Tage und vor aller Augen.
Es war schon sehr lange her, dass man eine Vestalin bei lebendigem Leibe begraben hatte, und deshalb maßen die Bürger Roms dem bevorstehenden Ereignis eine große symbolische Bedeutung zu: Der Tod der letzten Vestalin markierte das Ende der alten Sitten und Bräuche.
Sobald aber die Sonne unterging, dort beim Heiligen Hain, wo sich Julius und Sabina als Liebende jahrelang getroffen hatten, wo er erfuhr, dass sie das Kind, welches ihr Todesurteil bedeutete, unter dem Herzen trug; sobald es dunkel wurde und alle Schaulustigen fort waren, da gruben sich Julius und sein Bruder im Schutz des nächtlichen Dunkels die Finger blutig am Geheimnis von Sabinas Grab.
Nach heidnischen Glaubensvorstellungen wurde man nach dem Tode wiedergeboren und erhielt die Gelegenheit, das Unrecht, das man im Leben zuvor begangen hatte, wiedergutzumachen. Solange Julius die Erde mit seinen Händen bewegen konnte, sollte
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