Der Memory Code
Sabinas Wiedergeburt bereits im hiesigen Leben nichts im Wege stehen. Dafür wollte er sorgen.
Von ihrer hohen Warte auf dem Todesbett ließ Sabina den Blick von ihrem Kind zu Julius wandern, der auf der anderen Seite schritt. Mittlerweile schimmerten ihre Augen von unvergossenen Tränen. Bald mussten sie sich Lebewohl sagen. Ihr gemeinsames Leben, so wie sie es gekannt hatten, würde dann vorbei sein. Keine Begegnungen mehr im Hain, keine nächtlichen Bäder im Teich. Nie wieder würde er sehen, wie das Mondlicht ihre Haut sprenkelte unter den Eichenbäumen, die ihnen so lange Zuflucht und Geborgenheit gewährt hatten.
Morgen mussten sie beide die nächste Etappe ihrer Reise antreten.
Lächelnd blickte er zu ihr auf. “Nur Mut!”, formte er wortlos mit den Lippen, wusste er doch, dass sie ihn bei dem Getöse und Gejohle der Menge ohnedies nicht gehört hätte.
Nur Mut, Liebste!
Sie hielt die leeren Hände im Schoß. Es war ihr verboten, irgendetwas in ihre Grabkammer mitzunehmen. Die Schachtel, die Mitgift für das nächste Leben, steckte unter ihrem Gewand in einer Leibbinde, verborgen unter der weiten Robe. Die Kanten bohrten sich schmerzhaft in die Rippen. Den kostbarsten aller Schätze nahm sie mit in ihr Grab. Mehr als tausend Jahre hatten die Vestalinnen das Heilige Feuer gehütet und das, was unter dem Herd verborgen lag. Es war nicht mehr als recht, dass Sabina diesen Schatz auch im nächsten Leben bewachen sollte.
Sie waren am Grabhügel angelangt. Die Zeit war gekommen.
Sabina schaute hinüber zu ihrer Schwester, der sie ihr Kindlein anvertraut hatte. Sie beugte sich über das Kleine und küsste es auf die weiche Wange. “Bis bald, mein Kleines.” Dann wandte sie sich an Claudia. “Du weißt, was du tun musst?”, fragte sie.
Ihre Schwester nickte, zu bewegt, um auch nur ein Wort hervorzubringen.
“Wenn es zum Schlimmsten kommt – der Schatz ist ein Vermögen wert. Ihr braucht nicht zu darben, ihr zwei.”
“Rede nicht so … es wird schon nichts geschehen. Alles wird gut.” Noch mehr zu sagen war zu gefährlich.
Sabina umarmte ihre Schwester und ihr Kind und hielt sie umfangen, fühlte die winzige Faust, als das Kleine nach ihrer Brust tastete.
Schließlich gab sie die beiden frei.
Julius und Lucas halfen ihr von der Bahre, die anschließend von den Trägern hinunter in die Krypta befördert wurde. Sobald sie wieder oben waren, stieg auch die Verurteilte, begleitet von Julius und vom Pontifex Maximus, hinab in die Kammer, in der bereits zuvor die Lampe nebst den Vorräten bereitgestellt worden waren. Rasch besprachen die drei den Rettungsplan. Draußen wartete die Menge. Falls sie zu lange unten blieben, erregte dies womöglich Verdacht.
Lucas verließ das Gemach als Erster und kletterte wieder über die hölzerne Leiter nach oben ins Freie.
Julius nahm Sabinas Hand. “Sabina …”, wisperte er.
Sie wehrte ihn sanft ab. “Nicht! Schweig!”, mahnte sie und legte ihm den Finger über die Lippen. “Bald haben wir alle Zeit der Welt. Du wirst schon sehen.” Sie klingt so selbstsicher, dachte er. So bestimmt. Doch die Tränen, die ihr über die Wangen rannen, sie straften diese Zuversicht Lügen.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn innig auf den Mund, bemüht, ihm das mitzuteilen, was sie ihm nicht mit Worten verraten konnte. Julius schmeckte etwas Salziges. Er konnte nicht sagen, ob es von ihren Tränen stammte oder von seinen.
46. KAPITEL
N ew Haven, Connecticut – Montag, 23:18 Uhr
“Ist Ihnen nicht gut?”
Ihm war, als hätte man ihm das Herz aus der Brust gerissen. Von Kummer überwältigt, strebte er in die Vergangenheit zurück. Zu ihr, zu Sabina, zu ihrer beider Kind.
“Josh?”
Gabriellas Stimme drang wie aus weiter Ferne, und er wusste, er musste ihr gehorchen. Überkommen von einem herzzereißenden Abschiedsschmerz, geriet er in Panik und streckte die Hand aus, während sich Sabinas Gesicht in der blaugrünen Woge auflöste.
“Josh!”
Es dauerte zu lange, bis er den Weg zurück in die Gegenwart fand. Er hätte etwas sagen sollen, kam aber nicht auf die richtigen Worte und holte tief Luft. “Geht schon”, murmelte er und stellte erschrocken fest, dass er Gabriellas Arme umklammert hielt. Hatte er etwa nach ihr gegriffen statt nach Sabina? Seine Verwirrung steigerte sich noch, als er begriff, dass er froh darüber war. Er wollte sie ja in den Armen halten. Es kam ihm ganz selbstverständlich vor.
“Fehlt Ihnen auch wirklich
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