Der Memory Code
Blätter, dort auf ein bemoostes Fleckchen Erde fielen.
Üppige Lorbeerbüsche wuchsen da, Zypressen und Myrte, doch waren es die Eichen, die diesen heiligen Hain ausmachten. Geweihte Stätte seit ewigen Zeiten. Fern des grauen Alltags konnten die Priester hier ihre Riten zelebrieren und die Quellgöttin Furina anrufen.
Julius ließ sich auf einem bemoosten Felsen nieder und wartete auf Sabina. Hier, Meilen jenseits der Mauern Roms, hörte man nicht das Gebrüll von Soldaten, nicht das Gezänk streitender Bürger, nicht das Gepolter vorüberholpernder Ochsenkarren. Hier roch man nicht die Angst, sah man nicht den Kummer in den Augen der Menschen – einfacher Bürger, die von Politik nichts verstanden. Zu hören war allein der Gesang der Vögel sowie das Plätschern des Wassers, das aus den Ritzen im Gestein sprudelte und in den tiefer liegenden Teich rieselte. Die geweihte Stätte erstreckte sich bis in die Tiefe des Gehölzes, und sooft Julius auch dort verweilte – nie hatte er das Gefühl, er habe Grotte und Hain zur Gänze erfahren oder die Rätsel verstanden, die er barg. Hier war nichts alltäglich. Jeder einzelne Baum glich einer von Künstlerhand geschaffenen Anordnung von Geäst, das sich immer feiner verzweigte, mit unzähligen Blättern, allesamt schimmernd in einem Licht, welches stets weicher und sanfter war als irgendwo sonst in Rom. Ein jedes Fleckchen Erde bot eine Fülle an üppigem Gras, Moos, Schattengewächsen und Blumen.
Als Julius noch ein Knabe gewesen war, da hatte sein Lehrer erzählt, dieser Hain sei vormals der Ort gewesen, an welchem Diana, die Göttin der Fruchtbarkeit, von einem Priester assistiert ihre pflichtgemäßen Kulthandlungen beging. Das Königspaar des Waldes, so hatte man die beiden genannt. Vereint durch das Band der Ehe sorgten sie dafür, dass die Frühlingsknospen zu Sommerblüten reiften und schließlich zu den Früchten des Herbstes.
Die Knaben hatten feixend bedeutungsvolle Blicke getauscht und sich tuschelnd ausgemalt, was die zwei dort ganz allein im Walde wohl noch so alles getrieben haben mochten. Sie hatte Witze gemacht über die ausschweifenden Gelage, welche Gerüchten zufolge dort in dem Hain stattfanden, ob heilig oder nicht. Jedermann wusste ja, was Männer dort mit anderen Männern oder mit Frauen anstellten. Es war weder geheim noch lästerlich.
Heilig waren allein die Vestalinnen. Sie legten für die Dauer ihrer Amtszeit ein Keuschheitsgelübde ab, was ihnen im Gegenzug den Vorrang über alle Römerinnen sowie auch über zahlreiche Römer verschaffte. Mächtig, autonom, auf mannigfaltige Weise ungebunden, waren sie frei von den Knebeln der Mutterschaft oder den Bestimmungen der Ehemänner.
Als Gegenleistung für diese ranghohe Stellung entsagte eine Vestalin freiwillig jeglicher Möglichkeit eines Zusammenlebens mit einem Mann, und zwar für dreißig Jahre: die ersten zehn waren die Lehrjahre, die nächsten zehn dem Amt der Priesterin geweiht, und die letzte Dekade diente der Unterweisung des Nachwuchses. Manche meinten, das sei von einer Frau sehr viel verlangt; andere wiederum sahen das nicht so. Vom Moment ihres Amtsantritts – sie war zwischen sechs und zehn Jahre alt – bis hin zum sechsunddreißigsten, achtunddreißigsten oder vierzigsten Lebensjahr blieb eine Vestalin enthaltsam. Nie war sie einer männlichen Berührung ausgesetzt, niemals jenem Druck zwischen den Schenkeln, der natürlich war und gut. Nie durfte sie den heißen Blicken der Männer nachgeben, die sie zwar in ihrer Eigenschaft als Priesterin aufsuchten, aber doch durch den Schleier hindurch das Weib in ihr sahen. Denn falls sie nachgab, falls sie im Ringen mit der Tugendhaftigkeit unterlag, gab es keine Gnade. Die Strafe war drakonisch und erbarmungslos: Die unkeusche Vestalin wurde lebendig eingemauert. Fürwahr, ein Leben voller Entsagung, doch dafür waren Vestalinnen unantastbar, und lediglich ein verschwindend kleiner Bruchteil von ihnen brach das Keuschheitsgelübde.
Nur gelegentlich blieb eine Bestrafung aus, etwa wenn die Vestalin von einem Angehörigen der römischen Oberschicht verführt wurde. Hadrian hatte einst eine Vestalin geraubt und zu seiner Gemahlin gemacht, ohne dass einem von beiden auch nur ein Haar gekrümmt worden war. Im Laufe der Geschichte indes waren von einundzwanzig Vestalinnen, die sich mit einem Manne eingelassen hatten, siebzehn lebendig begraben worden. Auch fünfzehn der betroffenen Liebhaber wurden hingerichtet. Die Regeln ließen sich
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