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Der Memory Code

Der Memory Code

Titel: Der Memory Code Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
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keine diffuse Hellseherei. Es war die Wahrheit, und Julius wusste es. Die schlimmsten Befürchtungen der alten Priesterkaste bewahrheiteten sich nun.
    Julius warf der Alten ein Geldstück zu, bedachte den Ermordeten mit einem letzten Blick und setzte seinen Weg fort.
    Erst als er das Stadttor passierte, normalisierten sich seine Atemzüge. Das mitgebrachte Proviantbündel über der Schulter, straffte Julius den Rücken, denn auf einmal wurde ihm bewusst, dass er die ganze Zeit geduckt marschiert war, gleichsam stets auf dem Sprung und halbwegs wie auf der Flucht.
    Im Laufe der Geschichte hatten sich die Menschen schon immer wegen der Frage bekriegt, welcher Glaube der rechte sei. Hatten aber nicht auch zahlreiche Zivilisationen in Wohlstand nebeneinander existiert, obwohl sie völlig gegensätzliche Gottheiten verehrten? Bot der römische Götterglaube nicht das beste Beispiel für dieses gedeihliche Nebeneinander der Religionen, und zwar schon über tausend Jahre? Dass man zahlreiche Götter und Göttinnen sowie die Natur verehrte, schloss ja den Glauben an einen allmächtigen Über-Gott nicht aus. Zudem verlangte der römische Götterglaube auch nicht, dass alle Menschen derselben Gottheit huldigen sollten. Genau das aber forderte der Imperator nunmehr von seinen Untertanen.
    Je intensiver Julius die Geschichte studierte, desto klarer wurde ihm, dass man es bei Theodosius mit einem Herrscher zu tun hatte, der rechtschaffene und gutgläubige Bürger dazu missbrauchte, um seinen Einfluss und seinen persönlichen Reichtum zu mehren. Was vor fast fünfundsiebzig Jahren im Konzil zu Nicäa verkündet worden war – dass nämlich alle Menschen zum Christentum übertreten und an den einzigen Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde glauben müssten –, das war noch nie mit solcher Brutalität durchgesetzt worden wie gegenwärtig. Die Mordtaten waren blutige Warnungen: Entweder man fügte sich, oder man musste damit rechnen, ausgelöscht zu werden.
    Julius und seine Mitpriester gaben sich keinen Illusionen hin. Wollten sie überleben, mussten sie ihrem Glauben abschwören oder zumindest so tun. Und falls sie eine Zukunft haben wollten, mussten sie einige der überkommenen Gesetze lockern und an die neuen Zeiten anpassen. Gegenwärtig jedoch hatten sie andere Probleme. Kaiser Theodosius war beileibe kein Heiliger. Es ging hier nicht darum, einen oder mehrer Götter anzubeten, nicht um kultische Bräuche oder Erlösung. Wie gerissen sie waren, Theodosius und seine engstirnigen Kirchenfürsten! Sie wollten die Menschen glauben machen, dass sie im Jenseits noch mehr Leid erfahren, als ihnen im Diesseits ohnehin bereits widerfuhr, wenn sie nicht den neuen, rechten Glauben annahmen. Die Gefahr für jeden Priester, jede Sekte und für jeden, der an den alten Sitten festhielt, wurde von Tag zu Tag größer. Der abgeschlachtete Pontifex in der Gasse an jenem Morgen war nur eine weitere Warnung an alle Würdenträger der bisherigen Ordnung.
    Allerorten bekannten Bürger sich öffentlich zum neuen Glauben und folgten damit dem kaiserlichen Aufruf, die neue Ordnung durchzusetzen. Hinter geschlossenen Türen indes hörte sich vieles ganz anders an. Die Römerinnen und Römer, welche ein Leben lang die alten Götter und Göttinnen verehrt hatten, hofften nach wie vor auf einen Aufschub vom Zwang zum neuen Glaubensbekenntnis. Gewiss, in der Öffentlichkeit sahen sie sich vor und gelobten ihrem Kaiser die Treue, doch mochte Rom noch so fortschrittlich wirken – es war vor allem eine Stadt, in welcher der Aberglaube herrschte. Zwar lebte der Durchschnittsrömer in Furcht und Schrecken vor seinem Imperator, aber noch größer war die Angst vor den Folgen eines Bruchs mit den überlieferten heiligen Riten. Nach außen also herrschte fügsame Ruhe, ja sogar so etwas wie Begeisterung für eine religiöse Umwälzung. In Wirklichkeit jedoch war vieles davon nur frömmelndes Getue.
    Die Frage war nur: Wie lange noch?
    Mit jedem ermordeten Priester, mit jedem geplünderten und niedergebrannten Tempel würden die überkommenen Sitten und Gebräuche ein wenig mehr aussterben, bis nichts und niemand mehr übrig und die Erinnerung vollkommen verblasst war.
    Die Stämme der in luftige Höhen ragenden Bäume waren zernarbt und rissig. Die Äste bogen sich unter der Last des Laubes. Der Wald war so dicht, dass Licht nur in schmalen Strahlenbündeln durchdrang, die hier auf einen einsamen Ast voller schimmernder smaragdgrüner

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